Johannes Anders
Musik - Journalist

SIMON NABATOV

Text von Johannes Anders

Simon Nabatov 1 Simon Nabatov, 1959 in Moskau geboren, spielte schon mit drei Jahren Klavier. Ausbildung u.a. am Moskauer Konservatorium. 1979 Emigration nach New York, Studien an der Juilliard School of Music und intensive Beschäftigung mit Jazz und improvisierter Musik, was seinen weiteren musikalischen Lebensweg bestimmte. Aufnahmen und Konzerte mit vielen renommierten Musikern wie z.B. Paul Motion, Tony Scott, Paul Horn, Barry Altschul, Billy Hart, David Murray, Mark Feldman und Kenny Wheeler sowie mit einer Vielzahl wichtiger europäischer Musiker. Mitglied in den Quartetten von Ray Anderson und Arthur Blythe, der NDR Big Band und dem Klaus König Orchestra; spielte im Duo zusammen mit Steve Lacy und Nils Wogram, mit Wogram auch im Quartett und realisierte eigene, auch auf CD dokumentierte Solo-, Duo-, Trio- und Quartett-Projekte. Nabatov führte auch teilweise für ihn geschriebene Kammermusik-Werke auf wie etwa

das “Piano Concerto for ´Baba´“ von Kenny Werner, aber auch Gershwins „Rhapsody in Blue“ oder das „Concerto for Jazz Ensemble and Orchestra“ von Rolf Liebermann. Aktuelle Gruppen sind neben Trios etwa mit Ernst Reijseger und Michael Vatcher weiterhin das Duo mit Wogram und das wiedererstandene mit Han Bennink. Er unterrichtete an der Essener Folkwangschule (1989-1991), der International Jazz and Rock Academy in Remscheid (1991-93) und 1998 bis 2001 an der Musikhochschule Luzern. Er wohnt seit 1989 in Köln, hat aber auch ein Apartment in New York.


WILLIE “THE LION” SMITH (1897-1973):

12 STREET RAG (“Music On My Mind”, rec. 1966, W. Smith, Solo Piano. MPS-LP).

Simon Nabatov 2SN: Ich liebe Stride Piano und ich denke, das war Willie “The Lion”. Der Geist dieser Musik trifft genau die damalige Zeit, auch wenn ihn die glatte Perfektion nicht mehr so kümmert, das Tempo mal etwas rauf oder runter geht und er die schnellen Bässe nicht immer genau trifft. Aber das stört mich absolut nicht. Er war ein grosses Orginal, ein Gigant und einer der grössten Väter dieser Musik.


BUD POWELL (1924 - 1966):

CONCEPTION („Inner Fires – The Genius of Bud Powell“, rec. 1953, Powell, p, Ch. Mingus, b, R. Haynes, dr. Elektra Musician-LP).

SN: Das war Bud Powell, aber beim Titel bin ich nicht sicher… JA: „Conception“ von Shearing… SN: … der lyrisch-klassisch wirkende B-Teil weist eigentlich auf ihn hin… Für mich war Powell der erste Pianist, mit dem ich mich ganz bewusst auseinandergesetzt habe, mit seinem typischen Anschlag, seiner Artikulation,  mit denen er den Bebop Parkers auf das Klavier übertragen hat, mit der perfekten Balance zwischen vertikalen und horizontalen Linien… Er ist zwar hier nicht in Topform, aber immer noch grandios; ich spielte ihn damals nach wie ein Verrückter…


FRIEDRICH GULDA (1930-2000):

PRÄLUDIUM UNDF FUGE g-moll XVI (“Johann Sebastian Bach - Das wohltemperierte Klavier - Zweiter Teil”, rec. 1972, F. Gulda, p. MPS 4-LP-Box).

Simon Nabatov 3SN: Das Präludium ist mit seinen 32-stel metrisch-rhythmisch für meine Begriffe fast zu extrem gespielt, aber konsequent durchgezogen, konsequent auch architektonisch, vor allem zusammen mit der Fuge. Ich persönlich würde das Präludium etwas runder, weicher und vielleicht auch etwas langsamer bevorzugen… Aber als Paar, als Dualität funktioniert das hier wunderbar. Ist das Gulda?


LEONID CHIZHIK (1947):

EPILOG (“Reminiscences”, Auszug, rec. 1980 Moskau, L. Chizhik, Solo Piano. Melodija-Moskau-2LP-Box).

SN: (Lacht…), interessant, scheint ein Europäer zu sein, pianistisch brillant und phantasievoll…, hatte aber ein bisschen ein komisches Gefühl, weil er sich mit einer Mischung zwischen Klassik-Einflüssen und Jazz beschäftigt, mit Zutaten, die mir nah sind; aber wie diese Zutaten eingesetzt werden, das ist mir etwas zu Flash-artig, eine Art von Eklektizismus, die ich persönlich nicht so bevorzuge. JA: 1980 in Moskau aufgenommen. SN: Ist es vielleicht Chizhik? Mit 12 Jahren hatte ich einmal eine einzige Klavierstunde bei ihm…


GILBERTO GIL & JORGE BEN:

TAJ MAHAL („Gil e Jorge“, rec. ca. 1975, Jorge Ben, voc + g, G.G., g + voc. Philips-LP).

SN: Jorge Ben mit seinem berühmten „Taj Mahal“; einer der ganz Grossen der brasilianischen Musik. Ich liebe besonders seine Aufnahmen der 70er Jahre auf Philips. Er formulierte eine ganz bestimmte Stilistik, die eine magische Kraft ausübt, mit ganz einfacher, schlichter, diatonischer Bassstruktur und Melodik, dabei sich steigernd und ekstatischer werdend. Wunderbar auch seine Texte, in denen er mit einfachsten Mitteln und ganz feinen Nuancen humorvolle, aber auch spirituelle, religiöse Themen darstellt. Faszinierend, wie brasilianische Musiker auch solche Themen überzeugend und sinnlich rüberbringen, ohne auf externe musikalische Pathetik zurückzugreifen.


VYACHESLAV GANELIN (1944):

SMILE (“Golden Years of  the Soviet New Jazz, Volume IV”, Auszug, rec. 1984, V. Ganelin, p, Vladimir Tarasov, dr, Duokonzert ohne Vladimir Chekasin!. Leo-4CD-Box).

Simon Nabatov 4SN: Ist das ein Duo und niemand kommt dazu? Das irritiert mich aber sehr, … diese Passagen mit der linken Hand, mit Vamps, Clusters und den dazukommenden elektrischen Tönen…, sind es Russen, ja? Eigentlich hatte ich sofort an das berühmte Ganelin Trio gedacht und auch an den tollen Schlagzeuger Tarasov, aber die ganze Zeit auf den dritten Mitspieler gewartet, denn alles klingt mir sehr vertraut… In den siebziger Jahren war ich von dem Trio sehr angetan, von der Energie und Unmittelbarkeit… Ich besuchte alle Moskauer Konzerte und gewisse musikalische und theatralische Konzepte sind mir heute noch im Gedächtnis. Das Trio war sehr einflussreich, auch auf mich, und damals die einzige Gruppe dieses Niveaus, die man regelmässig live erleben konnte, eine absolut befreiende Sache in einer mehrheitlich konservativen Moskauer Jazz- und Improszene.


SVIATOSLAV RICHTER (1915-1997):

PRÉLUDE gis-moll, op.32/12 - SERGEI RACHMANINOFF/1873-1943 (“Great Pianists of the 20th Century”, S. Richter, p. Philips-2CD-Box).

SN: Das ist Richter, ein kongenialer Interpret und nach wie vor mein Gott und Lieblingspianist. Für mich kommt da trotz seiner absolut unverkennbaren Individualität der Interpretation, seiner unglaublich klugen Darstellung des kompositorischen Prozesses eine gewisse göttliche Objektivität zum Ausdruck, denn plötzlich war die Individualität weg und man hatte den Eindruck eines Dieners des Komponisten, als ob er mit etwas Übersinnlichem, mit der geistigen Welt in Kontakt stand... Habe viele Konzerte von ihm erlebt und wir fieberten regelrecht seinen Auftritten entgegen, der majestätischen Gestalt mit den grossen Händen… In der ersten Hälfte seiner Karriere ging er so stürmisch, so furchtlos an das Material heran, war in jeder Sekunde so präsent und vibrierend, dass der Eindruck einer genialen Kombination von Naturgewalt, Tempo, Intensität, Sound und Tiefe entstand.


EVGENY KISSIN (1971):

ETÜDE op. 2/3 - S. PROKOFJEW/1891-1953 (CD-Angaben wie S. Richter).

SN: Ui…!, weiss nicht genau, was und wer das ist, aber der Pianist gefiel mir sehr gut, z.B., wie er die Passagen mit der rechten Hand in den unteren Linien souverän rausbrachte, wuchtig, sehr überzeugend und auch rhythmisch sehr stark, jedoch nicht penetrant - wahrscheinlich auch ein Russe… JA: …ja, es ist Evgeny Kissin.


JASON MORAN (1975):

GANGSTERISM ON CANVAS (“The Bandwagon”, rec. 2003, J. Moran, p, T. Mateen, b, N. Waits, dr. Blue Note-CD).

SN: Sehr interessant, auch wie die Band atmet, mit einer gewissen Dringlichkeit spielt, die ich gut fand; die Phrasen haben eine gewisse Eckigkeit, so als ob der Pianist spricht und sich ab und zu unterbricht, ein paar Worte rausschneidet, was aber nicht massiv sondern auf einer Art Mikroebene passiert. Er ist ein Sucher, der die normalen Klischees der Jazzpianistik vermeidet, aber sich doch etwa auf Herbie Nichols bezieht. Ich bin nicht sicher, aber ist das Jason?


HERBERT HENCK (1948):

THIRD INTERLUDE - JOHN CAGE/1912-1992 (“Sonatas and Interludes”, rec. 2000, H. Henck, piano + prepared piano. ECM-2CD).

SN: Das gefällt mir sehr, ist das notiert? JA: So viel ich weiss, spielt der Pianist auf Basis ziemlicher genau notierter Angaben und auch die Anweisungen für das Präparieren des einen Kaviers, das mit dem Spiel des anderen, unveränderten Flügels im Playback kombiniert wurde, sollen ursprünglich ziemlich präzis gewesen sein. SN: Ich kenne mich nicht detailliert in den Klavierwelten von Cage aus, es ist aber wahrscheinlich aus den älteren „Sonatas and Interludes“, die zusammen mit den präparierten Klängen damals eine geniale Erfindung darstellten. Erstaunlich dabei, wie frisch das nach wie vor klingt. Ich hatte kürzlich meine Kölner Kollegin Deborah Richards, eine amerikanische Pianistin, die Neue Musik spielt - Ex-Frau von Herbert Henck - gebeten, mir einige Stunden zum Thema Präpariertes Klavier in der Neuen Musik zu geben, wobei sie davon sprach, wie aufwendig das Präparieren ist, um z.B. die reichhaltigen Klänge von Obertönen zu treffen… JA: Der Pianist unseres Beispiels war übrigens Herbert Henck.


PETER JOHANNESSON FEATURING HERBIE HANCOCK:

SIXTUS (“Sixtus”, Auszug, rec. 1995, Peter Johannesson, dr, + Group, H. Hancock, p. EmArcy-CD).

SN: Ist das Herbie… -  nicht in seiner besten Phase, ich höre hier nur seine Klischees und vorbereiteten Passagen, daran erkenne ich ihn. JA: Wann hatte er denn seine besten Phasen? SN: Zum Beispiel bei den Blue-Note-Aufnahmen der sechziger und siebziger Jahre und natürlich im Miles Davis Quintett, da liebe ich ihn, da hatte er Fleisch und Blut und es strömte nur so…


PETER RUNDEL & PELLEGRINI QUARTET:

VIOLIN & STRING QUARTET – MORTON FELDMAN/1926-1987 (“Violin & String Quartet”, Auszug, rec. 1997, Peter Rundel, viol., Pellegrini String Quartet. hat(now)ART-2CD).

JA: Das Stück wirst Du nicht kennen, aber den Komponisten ?…  SN: Das muss Morton Feldman sein. Es hat relativ lange gedauert, bis ich seine Musik schätzen lernte, aber ich mag sie sehr, diese ornamentale Welt musikalischer Gewebe und auch seine Kompositionen für Klavier… Phantastisch, wie viel Mut er hatte, seine Ästhetik zu entwickeln und seinen Weg zu gehen. JA: Eigentlich eine meditative Musik… SN: Seine Musik ist meditativ!


SYLVIE COURVOISIER (1968):

OCTAVIA (“Abaton”, rec. 2002, aus CD2: Improvisations by S. Courvoisier, p, Mark Feldman, viol, Erik Friedlander, cello. ECM-2CD).

SN: Ist das Feldman mit Courvoisier? Auch ihn erkenne ich an seinen typischen Wendungen… Ist das die neue Trio-CD mit Erik Friedländer? Courvoisiers Spiel wirkt hier sehr homogen, Feldman eher Flash-artig und das Potential dieses Stücks wird durch gewisse Automatismen nicht voll ausgereizt, weshalb mich dieses Stück nicht wahnsinnig angesprochen hat. Aber die CD müsste man ganz hören, denn alle drei sind brillante Musiker, die ich sehr schätze.


PIERRE-LAURENT AIMARD (1957):

DER ZAUBERLEHRLING - ETUDE FOR PIANO - GYÖRGY LIGETI/1923 (“ at Carnegie Hall”, rec. 2001, P.-L. Aimard, Piano Solo. Teldec Classics-CD).

SN: …aus Band 2 der Ligeti-Etüden, absolut brilliant und faszinierend gespielt, wahrscheinlich von unserem Kölner Professor Aimard. Der Band 2 ist ja noch eine Steigerung, obwohl der erste schon genial ist… Ist das eine Live-Aufnahme? JA: ja, 2001 bei seinem Carnegie-Hall-Debüt, wo er noch Berg, Beethoven, Liszt, Debussy und Messiaen spielte.


IVO PAPASOV:

KOPANITSA (“Orpheusascending”, rec. 1989, I. P  and his Bulgarian Wedding Band. Hannibal-CD).

SN: Ist das Papasov?…, schön, uuh!!!…; ich liebe diese balkanische Musik heiss und innig und glaube sogar, diese CD zuhause zu haben.


KEITH JARRETT (1945):

PRELUDE AND FUGUE NO.2 in A minor -  DIMITRI SHOSTAKOVICH/1906-1975 (“24 Preludes and Fugues op. 87”, rec. 1991, K. Jarrett, Piano Solo. ECM-2CD).

SN: Shostakovich, Präludium und Fuge in a-moll…, aber wer spielt das? Ist das nicht unser Jazzfreund (Jarrett)…, echt ?! Ich muss gestehen, obwohl von der Kritik hoch gelobt, habe ich diese Einspielung nie komplett gehört. Darf ich das noch einmal hören?  Ich muss nun sagen, es ist erstaunlich und ich bin ziemlich schwer beeindruckt, habe das so nicht erwartet und finde es musikalisch wunderbar. Noch besser würde das ohne Hall klingen, den ich bei Shostakovich ästhetisch als völlig unpassend empfinde, sorry.


CECIL TAYLOR (1933):

PART 1 (“The Willisau Concert”, Auszug, rec. 2000, C. Taylor, Piano Solo. INTAKT-CD).

SN: Das ist Cecil…, eine relative späte Aufnahme; wunderschön, wie hier seine lyrische Seite zur Geltung kommt. Ich mag diese spürbare Balance zwischen Tonalität und fein abgestuften, freien Teilen und auch die energischen Teile wirken irgendwie elegisch. Und wie die Schnitte zusammenkommen, wie das atmet, welche Mikrodramaturgie hier funktioniert…, absolut faszinierend… Kein moderner Pianist kommt daran vorbei, sich mit Cecil Taylor zu beschäftigen!.


PIERRE BOULEZ (1925):

SUR INCISES – 1996/98 (“Sur Incises”, Auszug, rec. 1999, Solistes de l’Ensemble Intercontemporain, Leitg. P. Boulez. DG-CD).

SN: Ist das ein neueres Werk? JA: …von 1996/98. SN: Ich glaube, das ist wieder eine CD von meinem Stapel noch nicht angehörter, von der ich nur die Kommentare gelesen habe. Vermutlich ist es „Incises“ von Boulez – herrliche Besetzung mit den 3 Pianos usw. Boulez’ Umgang mit Sonorität und sein Gefühl dafür ist einfach wunderbar und einmalig. Ich schätze bei ihm am meisten, wenn er es schafft, seine stringenten strukturellen Ideen noch mit anderen Schichten so zu verkleiden, dass auch noch Sinnlichkeit dazu kommt, was bei ihm jedoch nicht immer der Fall ist.


 Simon Nabatov, ganz herzlichen Dank fürs Mitmachen.




 © JAZZ 'N' More Nr. 5/2003
Fotos: © Peewee Windmüller



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