Johannes Anders
Musik - Journalist

PIERRE FAVRE

Teil 1

Von Johannes Anders

Pierre FavrePierre Favre wurde 1937 in Le Locle im Schweizer Jura geboren und begann mit 15 Jahren als Autodidakt Schlagzeug zu spielen. In seiner musikalischen Laufbahn spielten verschiedene Jazz-Stilarten eine Rolle, zuerst Bebop, später dann auch New Orleans. In den sechziger Jahren vermittelte ihm der Free Jazz erste eigene Erfahrungen mit einer europäischen Spielaufassung. Darauf  gründete er eigene Gruppen mit Irène Schweizer, Peter Kowald und Evan Parker und spielte mit bedeutenden internationalen Jazzern wie zum Beispiel John Tchicai, Barre Phillips, Don Cherry, Peter Brötzmann, Charlie Mariano, Peter Warren und Albert Mangelsdorff. Im Kontext dieser verschiedenen Projekte und Begegnungen wurde sein Interesse immer stärker, eine eigene Konzeption melodischen Schlagzeugspiels zu entwickeln. Ab 1969 gab Favre erste Solo-Konzerte und spielte auch seine erste Solo-LP ein („Drum "Conversation" auf Calig). Beim von J.E. Berendt 1972 im Rahmen der Berliner Jazztage veranstalteten, historischen Konzert  „The Art of the Solo“, dem weltweit ersten Anlass, bei dem Musiker ausschliesslich unbegleitete Soli spielten, trat er zusammen mit prominenten Musikern wie Chick Corea, Gary Burton, Albert Mangelsdorff und Eubie Blake auf. 1971 begann er ein Klavierstudium und widmet sich seitdem vermehrt dem Komponieren, wobei u.a. das Werk "Metaphora" für Sinfonieorchester entstand. Ab 1972 arbeitete er auch regelmässig mit Tänzern, Schauspielern, Bildhauern, Malern und Architekten zusammen. Er spielte den Schlagzeugpart in Werken von Komponisten wie Ernst Krenek, John Cage, Hans Ulrich Lehmann und zuletzt in "Miserere" von Arvo  Pärt (für ECM). Zahlreiche Tourneen führten Favre durch Europa, Nord- und Südamerika, Asien, Japan und China. Er hat eine Vielzahl von Schallplatten eingespielt, darunter zehn für das Label ECM. Auf grosses Echo stiessen aber auch jüngere Editionen wie etwa "Singing Drums" und "European Chamber Ensemble", beide auf dem Zürcher Label "Intakt".

Sein neuestes Projekt heisst "The Drummers", in dem  Favre acht Schlagzeuger aus der ganzen Schweiz zusammenführt. Die Idee dabei ist, so Favre, "jeden dieser Schlagzeuger in seiner Eigenart vorzustellen und in ein gemeinsames 'Scenario' zu integrieren". Favres für dieses Projekt geschriebene Kompositionen "ermöglichen ein Zusammenspiel mit viel Freiraum für Improvisation und Solos". Wie er sein seit langem bestehendes, grosses Interesse für ethnische, insbesondere afrikanische, indische und brasilianische Musik jetzt auch praktisch umsetzt, erzählt er im anschliessenden Text.    


Pierre FavreAFRICAN & AMERICAN DRUMS:

1.)  Congo: The Bambala, „talking drum“.

2.)  Puerto Rico: „Bomba Dance“.

3.)  USA: "Jazz Drumming by BABY DODDS" ("African & American Drums", Ethnic Music, P.1954. Ethnic Folkways Library, 2-LP-Box).

PF: (Noch während des 3. Beispiels:) Das ist Baby Dodds ! Ich hatte Ende der sechziger Jahre guten Kontakt mit Philly Joe Jones, der mir so von Baby Dodds vorschwärmte, dass ich höchst animiert wurde, mehr von ihm zu hören. Das war ein Schritt zurück, der gleichzeitig nach vorne ging, aber auch Fragen danach auslöste, zum Beispiel, woher das alles kam. Das führte mein Interesse zurück nach Afrika und ich hörte damals sehr viel derartige Aufnahmen mit authentischen Beispielen wie die vorher gespielten. Das erinnert mich aber auch an meine Kindheit als Fünfzehnjähriger, wo ich Ähnliches gespielt habe, stundenlang. Immer wenn ich jemanden hörte, der solche Figuren spielte, habe ich gejubelt und mir gesagt, hei, der spielt ja ähnlich wie ich. Diese Rhythmen sind die Grundsteine von allem und man findet sie nicht nur in Afrika sondern auch in weiteren alten Kulturen, selbstverständlich in anderen Färbungen. Solche Trommelbeispiele sind mit unheimlicher rhyhmischer Kraft geladen; sie sind gewachsen unter Verzicht auf alles Unnötige, fernab jeglicher Formelhaftigkeit, die man heute allzu gerne sucht, um sie speichern  und nachspielen zu können.

Die gespielten Beispiele sind auch deshalb so aktuell, weil ich im Juli und August für einige Wochen ins brasilianische Salvador de Bahia fahre, um vier einstündige TV-Filme zum Thema Religiosität und Musik vorzubereiten und zu beginnen: Was hat Musik mit Religiosität zu tun, mit Geburt und Tod usw. Es sind schweizerisch-deutsche Co-Produktionen mit dem SWR-Fernsehen und SF DRS und ich wurde angefragt, weil sie jemanden suchten, der sich seit langem mit diesen Dinge befasst hat und schon viel mit aussereuropäischen Musikern gespielt hat. Kein Referent oder Moderator bestimmt hier das Geschehen, sondern ich als ein Musiker, der reagiert, der für die Leute oder wenn möglich mit ihnen spielt, der zum Beispiel auch auf Gesichtsausdrücke reagiert und je nach Empfinden und Gefühl kommentiert. Es wird im eigentlichen Sinne ein Bildtagebuch sein. Im ersten Film geht es um die Beziehung der afrikanischen Religionen zur Christianisierung, zum Christentum bzw., wie in Brasilien, zum Katholizismus. Weitere Themen sind Südinidien und der Hinduismus, Äthiopien als Beispiel für Afrikas Islamismus, sowie für den Buddhismus Nepal oder ein Gebiet, wo diese Beziehungen noch lebendig sind. Es gibt neben mir und den jeweiligen Filmemachern - aus der Schweiz wird es Bruno Moll sein und für den SWR  Wolfgang Rommel – nur einen Toningenieur und einen Kameramann mit Handkamera, also keine Scheinwerfer usw.,  damit die Aufnahmen so diskret wie möglich zustande kommen können. Ich nehme ein vollständiges Schlagzeug mit, allerdings eine kleine, extra für diese Reisen angefertigte Spezialausführung. Für mich bedeutet dieses spannende Projekt eine grosse Herausforderung und eine vielverspechende Möglichkeit, mich neu zu öffnen.


LOUIS ARMSTRONG AND HIS ALL STARS:

BODY AND SOUL ("Satchmo In Boston – Live At Symphony Hall", rec. 1947.  Louis  Armstrong, tp, Barney Bigard, cl, Jack Teagarden, tb, Dick Carey, p, Arvell Shaw, b, SID CATLETT, dr. SWF 1965).

PF: Der Klarinettist im Vordergund ist natürlich Barney Bigard und es sind wahrscheinlich die Louis Armstrong All Stars. Was mich dabei fasziniert, ist wieder einmal, wie es diese Leute damals musikalisch gemeint haben. Wie Bigard zum Beispiel um das Thema und die Harmonien spielt, das ist meisterhaft !. Da gibt es keine Scales oder irgendwelche Läufe, sondern ständige Erfindung. Und als es dann schneller wurde, dachte ich zuallererst an Sid Catlett. Er hat einen absolut einzigartigen Beat, tief und gleichzeitig vorwärtstreibend und das ganze Geschehen mit einbeziehend. Und was er noch hatte, war schon dieser melodiebezogene Weg, Phrasen zu unterstreichen oder zu punktieren, und das immer an ganz unerwarteten Stellen...Ich war ein grosser Fan von Sid Catlett. Als ich mal Tony Williams in Amerika besuchte, mit dem ich recht gut befreundet war, fragte er mich, ob ich wüsste, wer ihn sehr stark beinflüsst hatte: es war Sid Catlett ! Ich habe einmal in München mit der Max Greger Band für eine Fernsehproduktion gespielt und Louis Armstrong war Gast. Steve Swallow fragte mich diesbezüglich, was ich dabei gespürt hätte. Und ich weiss das noch ganz genau: Er stand vor mir, nur zwei Meter entfernt, und seine musikalische und rhythmische Präsenz war so stark, das ich weder rechts noch links etwas zu suchen hatte. Er war der Meister, der für mich ein grosses Jazzerlebnis bedeutete, - eine „Down To Earth“-Persönlichkeit und gleichzeitig ein liebenswerter Mensch!. 


Pierre FavrePHILLY JOE JONES & ELVIN JONES :

Beau-Ty ("Together !", rec. 1961. Hank Mobley, ts, Blue Mitchell, tp, Curtis Fuller, tb, Paul Chambers, b, Wynton Kelly, p, PHILLY JOE JONES & ELVIN JONES, dr. Atlantic-LP).

PF:  (Nach den ersten Takten...) Philly Joe Jones !. (Wenig später...) nein, nein, nein, was erzähl ich da ? (Kurz danach..) Doch, doch, er ists, - die Rhythmusgruppe mit Philly Joe und Paul Chambers. (Nach dem Solo von Philly Joe und dem Beginn von Elvins Solo...) Aha, da ist doch der Elvin mit dabei ! Aber Philly Joe ist hier dominierend, macht einen eigenen, grossen Raum auf, hat einen individuellen Klang und eine eigene Phrasierung. Aber beide sind bei aller Unterschiedlichkeit zwei ganz grosse Schlagzeuger.
JA: Höre ich da richtig, dass das Zusammenspiel der beiden nicht immer ganz gut funktioniert?
PF: Das ist eben das Problem bei all diesen Geschichten, jeder spielt voll und will sich nicht unterordnen,  eine Problematik wie bei zwei Dirigenten, die das gleiche Sinfonieorchester dirigieren sollen: Das funktioniert einfach nicht. Ich habe das einmal beim 5-Schlagzeuger-Projekt "Percussion Profiles" für ECM mit Jack deJohnette erlebt. Wenn man sich gegenseitig Sachen erzählt, in einer Art Wechelspiel, kann  man den anderen anfeuern, und das geht phantastisch. Aber richtig Zusammenspielen, das konnte ich mit ihm nicht. Das hat aber nichts mit dem Tempogefühl und den persönlichen Auffassungen zu tun. Wenn dann, wie hier mit Philly Joe und Elvin, noch eine Band dabei ist, wird die ganze Sache noch schwieriger.
JA: Könntest Du noch etwas zu den Unterschieden zwischen Philly Joe und Elvin  sagen ?
PF: Philly Joe liebe ich ganz besonders, er hat mich sehr geprägt, hat einen ungewöhnlich direkten, wuchtigen Ton, das Schlagzeug klingt bei ihm, und auch in ganz schnellen Tempi hat er noch Zeit. Elvin verkörpert mit seiner Sprache, mit seinem Rollenden, Vorwärtstreibenden, einerseits einen Bezug zurück nach Afrika. Dieses afrikanische Fliessen in langen Zeiträumen bringt ihn aber andererseits auch vorwärts, weist einen Weg in die Zukunft. Vielleicht könnte man das so beschreiben: Die Intensivierung entsteht nicht durch ein Spiel innerhalb von Strukturen wie 2, 4, 8 usw, sondern durch ein zur Geltung kommendes, afrikanisches Gefühl von Flamme und Trance, was besonders zusammen mit Coltrane entwickelt wurde und zum Ausdruck kam.  


PEPSI AUER TRIO:

MIKI'S LULLABAY ("Münchner Jazztage 1963". Pepsi Auer, p, Peter Trunk, b, PIERRE FAVRE, dr. SWF 1963).

PF: Ich weiss schon, es ist Blakey.
JA: Er ist es nicht !
PF: Oder Art Taylor...? (Nach Stück-Ende: ) Ich frage mich, ob das nicht eine europäische Gruppe ist..., - bin ich etwa der Drummer ? Diese Vierer..., so hab ich sie damals tatsächlich gespielt. Mein Gott, ist das lange her. Unglaublich die Dinge, die ich damals gemacht habe.


ANTON WEBERN:

FÜNF SÄTZE OP. 5, 1909, Fassung für Streichorchester, 1. Satz: Heftig bewegt (Amati-Ensemble Berlin, P.1971. DG-LP).

JA: 1909 komponiert und ca. 1971 aufgenommen.
PF: Sehr schwer zu sagen, wer das ist. Von den Streichern her könnte man meinen, den Komponisten zu erkennen, aber es ist nur der Klang, der das auslöst. Ich komme auf Webern. Was mich hier frappiert, ist die zum Ausdruck kommende Musikalität dieses Stücks, die musikalische Struktur; es wird nicht gemogelt oder geblufft und es gibt keine Effekthascherei. Die Komposition geht vorwärts, sie ist modern, fortschrittlich, ja gewagt, auch aus heutiger Sicht, und man kann dabei zuhören, wie bei jeder anderen normalen Musik. Auch muss man sich hier nicht fragen, bin ich dumm, weil ich das nicht verstehe... 


PIERRE FAVRE:

FUGA MIT ORGELPUNKT VON SCHNEE ("Albert Mangelsdorff, Pierre Favre, Joachim Kühn, Gunter Hampel: Solo Now", rec. 1976, PIERRE FAVRE, solo. MPS-LP).

PF: Das bin doch ich ! Aber wo und wann, weiss ich nicht mehr. 
JA: Es ist von der J.E.Berendt-Produktion „Solo Now“, 1976 im MPS-Studio in Villingen aufgenommen. Und der interessante Titel...
PF: ...bezieht sich auf ein Poem von Pierre Imhasly. (Beim weiteren Hören) Ja, jaaa..., hör dir mal das an, unglaublich ! (Beim Betrachten der Cover-Fotos:) Und wie jung wir alle da noch waren...Nach diesen Aufnahmen machten wir in gleicher Besetzung übrigens eine sehr schöne Tournee durch Südamerika.

 

© JAZZ 'N' MORE Nr.3/2001
© Fotos: Peewee Windmüller

 

Den weiterhin chronologisch konzipierten 2. Teil gibt es im nächsten „JAZZ ‚N‘ MORE“.

 

PIERRE FAVRE

Teil 2  

Von Johannes Anders

Pierre FavreNach den gelungenen Duo-Konzerten mit Irène Schweizer anlässlich ihres runden Geburtstags beim Jazzfestival Schaffhausen, beim UNCOOL-Festival am Lago di Poschiavo und beim grossen Festanlass im ausverkauften Zürcher Schauspielhaus blieb Favre trotz seiner laufenden Filmvorbereitungen weiter sehr aktiv, etwa bei den Konzerten im Moods und im Unternehmen Mitte in Basel, wo er zusammen mit Tim Berne, Marc Ducret, Fred Frith, Michel Godard und dem klassischen Arte Quartett ins spannende Experimentierfeld zwischen Jazz, Improvisation und Neuer Musik eintauchte, oder mit seinem Ensemble The Drummers in Genf. Beim kommenden Jazz Festival Willisau wird er zudem im Rahmen von „The Art of the Duo“ mit dem argentinischen Bandoneon-Maestro Dino Saluzzi auftreten.


1.) JOHNNY GRIFFIN QUARTET:

SCRABBLE („Night Lady“, rec. 1964. Johnny Griffin, ts, Francy Boland, p, Jimmy Woods, b, KENNY CLARKE, dr. Philips-LP).

2.) JOHNNY GRIFFIN QUARTET:

WEE / ESPACE SONORE Nr.1* ("„Daniel Humair Surrounded 1964 – 1987",  rec. 1983. Johnny Griffin, ts, Maurice Wander, p, Henri Texier, b, DANIEL HUMAIR, dr. DANIEL HUMAIR, dr-solo*. Flat & Sharp-LP).

PF: (Zu 1., nach den ersten Schlägen:) Kenny Clarke!. Ich habe ihn sehr viel gehört. Er ist der Vater der Elvin-Linie. Und der Saxophonist ist Johnny Griffin. Kenny Clarke habe ich rein praktisch entdeckt, weil ich damals sehr viel ins Pariser Blue Note gegangen bin, um ihn zu hören. Ich versuchte immer, rechtzeitig da zu sein, um direkt unter seinem Ride-Becken sitzen und seine Hand sehen zu können, denn es war mir ein Rätsel, wie er diese Kontinuität, dieses Fliessende und trotzdem Erdige zustande brachte. Er hat mich sehr beinflusst, das merke ich heute noch. (Zu 2.:) Ich habe zwei Ideen, entweder, es ist Daniel Humair oder Joe Nay, aber das ist bei diesem Stück nicht so deutlich zu erkennen. (Nach dem Drum-Solo-Stück:) Jetzt ist es ganz klar, es ist Daniel.
JA: Hat sich Daniel in all den Jahren eigentlich verändert ?
PF: Eigentlich nicht sehr. Wenn er gut drauf ist, sich also auf die Musik beschränkt und nicht aufs Humor machen, spielt er hervorragend, phantastisch.
JA: Aber Han Bennink zum Beispiel gelingt das doch auch sehr gut ?
PF: Ja, aber Daniel bringen diese Dinge aus der Musik raus. Hier spielt er aber sehr gut. Man hat immer wieder versucht, uns beide zu Konkurrenten hochzustilisieren. Das ist natürlich Quatsch, denn dafür sind wir viel zu verschieden und wir lassen uns davon auch nicht beeinflussen.  


REDMAN & BLACKWELL IN WILLISAU:

WILLISEE ("Redman and Blackwell in Willisau", rec. at Williau ’80 Jazz Festival. Dewey Redman, ts, ED BLACKWELL, dr. Black Saint-LP). 

PF: Schwer zu sagen, erinnert mich etwas an Billy Higgins, auch an Andrew Cyrille....
JA: Soll ich eine Solopassage suchen ?
PF: Ja. – Ich glaube, das ist Ed Blackwell, denn es hat etwas von der Rhythmik Ornettes, weshalb ich vorher auch an Billy Higgins dachte. Blackwell ist hier sehr von Max Roach beeinflusst. Und wer ist der Saxophonist ?
JA: Es ist Dewey Redman.
PF: Ah..., phantastisch, der spielt grossartig. Frappierend auch, wie sie zusammen improvisieren, wie dicht sie zusammen sind, das ist selten.


NEW PHONIC ART 1973:

IMPROVISATION NR. 2 ("Improvisation: New Phonic Art, Iskra 1903, Wired", P. 1974. New Phonic Art 1973, Carlos Roqué Alsina, p, e-org., Jean-Pierre Drouet, perc, Vinko Globokar, tb, Michel Portal, cl. DG/Deutsche Grammophon-3LP-Box).

PF: (Nach wenigen Minuten:) New Phonic!, mit Portal und Jean-Pierre Drouet...
JA: ... und Vinko Globokar, - für mich immer noch eine spannende, freie Improvisation.
PF: In dieser Zeit lag viel Aggressivität in der Luft, man hat sich gegenseitig provoziert, aber es war wahrscheinlich nötig...
JA: ... und ist immer noch nötig, so jedenfalls der frühere Sozialwissenschaftler und heutige Intendant der Kölner Philharmonie, Albin Hänseroth, der kürzlich im Deutschlandfunk überzeugend postulierte: „Ohne Provokation kein Fortschritt!“.   


MAX ROACH & ANTHONY BRAXTON:

ON IN TWO - TWO IN ONE ("On In Two – Two In One", Auszug, rec. live at Jazz Festival Willisau 1979. MAX ROACH, dr, Anthony Braxton, reeds. hatART-CD).

PF: Können wir zu einem weiteren Ausschnitt gehen? (PF runzelt die Stirn:) Ich kann hier nicht erkennen, wer das ist,  ist vielleicht auch nicht so wichtig. Der Schlagzeuger kann sehr viel ! (Nach längerem Zuhören:) Ist es Roach? Aber es hat mir nicht gefallen, wie er hier spielte. Vor allem in den schnellen Teilen empfand ich ihn nicht in Hochform. Er versuchte zu stark, mit dem Saxophonisten mitzugehen, kam dabei nicht ganz zurecht und der Boden war weg. Hier bei dieser langsameren Sequenz kommt seine sehr persönliche Art und sein typischer Klang besser zur Geltung. Hier ist er sich selber.  


KENNY CLARKE - MILFORD GRAVES - FAMOUDOU DON MOYE – ANDREW CYRILLE:

PIECES OF TIME ("Personal Statements", rec. 1983. Kenny Clarke, Milford Graves, Famoidou Don Moye, Andrew Cyrille, dr-solos. Soul Note-LP).

PF: (Während  Take 2:) Der spielt sehr, sehr gut, sehr afrikanisch auch...
JA: ... und der zweite Drummer?
PF: Der hält seine Linie nicht so wie der zweite, spielt auch anders, mehr in der Bebop-Art. Und der Bogen ist öfter gebrochen. Er versucht Sachen, die dann doch nicht gehen...
JA: Es ist Kenny Clarke, knapp eineinhalb Jahre vor seinem Tod.
PF: (Zu Take 3:) Hm..., gut, am Anfang voll auf der Afrika-Linie, hat aber auch etwas von Andrew Cyrille...Ist das normale Schlagzeugspiel, aber sehr gut gespielt, mit schönen fliessenden Bögen. Wer war denn das ? Was – Don Moye! Ich staune, denn das war hier sehr traditionell... (Zu 4:) Das gefällt mir sehr wie er spielt, die Musikalität in dem, was er macht. Auch der kleinste Beckenschlag ist voll in den musikalischen Fluss integriert. Er erzählt wirklich eine interessante Geschichte. Es ist wie ein modernes Bild in einem traditionellen Rahmen.Wer ist das?  Andrew Cyrille – jaaa, wunderbar, wunderbar! Alle Elemente, die er braucht, sind fern aller Klischees. Der Bogen seiner Inspiration ist absolut integriert und ungebrochen, es ist trotz der Kürze wirklich ein Musikstück!


Pierre FavreGYÖRGY LIGETI:

PIANO CONCERTO (1985-88), 3. Satz, Vivace cantabile ("The Ligeti Project", rec. 2000. Pierre-Laurent Aimard, p, Asko Ensemble, Reinbert de Leeuw. Teldec New Line-CD).

JA: Solist ist der 1957 in Lyon geborene Pierre-Laurent Aimard, der neue Star am Pianohimmel, vor allem in Bezug auf  kompetente, rhythmisch prägnante und energievoll-souveräne Interpretationen Neuer Musik.
PF: Diese sehr starke Musik löst bei mir zuerst einmal Überlegungen zur Konfrontation zwischen komponierten und improvisierten Sachen aus. Ich bin nicht ausschliesslich für das eine oder das andere. Aber die Improvisation ist sehr sehr wichtig für das Gefühl der Neugier und der augenblicklichen Entdeckung, was beim Spiel von Komponiertem garnicht möglich ist. Denn das Komponierte ist etwas Fertiges, das natürlich auch einmal entdeckt wurde und vielleicht sogar durch Improvisatorisches entstanden ist. Bei allem, was man hier hört, und ich empfinde das ganz stark, wird immer deutlich, warum es kommt: Warum kommt gerade hier in den tiefen Lagen ein Gong und was hat er für eine Funktion, oder warum plötzlich dort der Einsatz der Trompete... Und es ist ein Genuss, das zu hören, dieses wunderbar Fliessende ...!. Aber man könnte auch sagen, welch ein Glücksfall wäre es, wenn Teile dieser auch rhytmisch ausdrucksstarken Musik in die Improvisation führen würden. Das muss nicht so perfekt sein wie hier, das ist nicht möglich, aber es könnte von sehr gut hörenden Musikern zu hohem Niveau gebracht werden.
JA: Der Komponist ist György Ligeti...,
PF: ...ein grossartiger, phantastischer Komponist...,
JA: ...der in Bezug auf dieses Klavierkonzert von „einer neuartigen, rhythmischen Denkweise“ spricht, von einer Folge von „gleichmässigen, schnellen Impulsen, die zum Beispiel den 3.Satz durchziehen...“. Und Pierre-Laurent Aimard kommentiert, dass man „das wundersame Geflecht dieses Satzes nur angemessen wiedergeben kann, wenn man die Mechanik eines Urwerks mit einem ausdrucksstarken Atmen der Linien verbindet. Die perfekte Synchonisation“, so der Pianist weiter, „darf  die Freiheit, mit der die einzelnen Fäden im Flechtwerk verbunden sind, nicht beeinträchtigen“.


STEVE KUHN TRIO:

1.) OCEANS IN THE SKY ("Oceans In  The Sky", rec. 1989. Steve Kuhn, p, Miroslav Vitous, b, ALDO ROMANO, dr. Universal-Owl-CD).

2.) OCEANS IN THE SKY ("Remembering Tomorrow", rec. 1995. Steve Kuhn, p, David Finck, b, JOEY BARON, dr. ECM-CD).

PF: (Während der 2. Aufnahme:) Ist das eine ECM-Aufnahme?
JA: Ja, aber warum fragst Du das, wegen dem Klang?
PF: Ja, aber auch in bezug auf das verwendete Instrument: Die meisten Schlagzeuger bei ECM spielen auf dem gleichen Instrument. – Ist das Jack (DeJohnette), nein ?
JA: Könntest Du schon etwas zu den Unterschieden zwischen den zwei Drummern sagen?
PF: Der erste spielt seine Rolle ganz schön, etwas schüchtern vielleicht, der zweite ist jedoch viel frecher...; so frech ist eigentlich nur Jack, weshalb ich zuerst auf ihn kam. Es klingt so, als ob sich der zweite hier vorgenommen hatte, sich doch seine Freiheit zu nehmen - vielleicht entgegen bestimmter Vorgaben - und es ist erstaunlich, was und wie er das macht. In derartigen Trios hört man das sonst nicht. Wer ist der Schlagzeuger? Ist das tatsächlich Joey, der so spielt? Ist aber im Vergleich zu dem, was er sonst macht, sehr traditionell. Aber gut, phantastisch, es lebt, gibt einen starken Kontrapunkt... 


PAT METHENY w/CHARLIE HADEN & BILLY HIGGINS:

TEARS INSIDE ("Rejoicing", rec. 1983. Pat Metheny, g, Charlie Haden, b, BILLY HIGGINS, dr. ECM-LP).

PF: Ist das ein neuer Gitarrist?
JA: Nein, die Aufnahme stammt von 1983.
PF: Aber es ist eher die neue Linie des Gitarrenspiels..., und der Schlagzeuger spielt traditionell. Ist das Billy Higgins? Er spielt sehr gut, ist ein phantastischer Schlagzeuger. Spielt wie ein junger Gott, ist für mich wie Sonnenschein!. Macht mit wenig Technik und gewöhnlichem Vokabular revolutionäre Dinge, schafft mit wenigen Mitteln so viel, dass sich mir der Himmel öffnet, und dann das Pulsieren...Was er mit den Becken macht, bewegt..., mir geht es biologisch gut, wenn ich das höre!


TONY WILLIAMS QUINTET:

NEPTUNE ("The Story Of Neptune", rec. 1991. TONY WILLIAMS, dr, Wallace Roney, tp, Bill Pierce, ts, ss, Mulgrew Miller, p, Ira Coleman, b. Blue Note-CD).

PF: Ich weiss nicht wer das ist, vielleicht Cobham?
JA: Soll ichs sagen? PF: Ah ja...Ich erkenne aber nichts mehr vom jungen, draufgängerischen Tony Williams, der einmal bei Miles spielte, weder in der Technik noch im Ton. Früher hatte er eine unheimliche Frechheit, er war ein Feuerwerk frischer, unerwarteter Einfälle... Hier gibt es keine Überraschungen mehr; jedoch perfekt gespielt, sehr gut, könnte aber auch ein anderer sein. Ist so brav amerikanisch, wie eine schöne, attraktive Frau, bei der man jedoch keine Erotik und keine Eigenart spürt...


RICHARD GALLIANO:

DECISIONE ("Laurita", rec. 1994. Richard Galliano, acc., Palle Danielsson, b, JOEY BARON, dr, Didier Lockwood, viol. Dreyfus Jazz-CD).

PF: Der Schlagzeuger scheint nicht Daniel (Humair) zu sein...(Nach Bekanntgabe:) Das hatte ich mir eigentlich gedacht, die Frische in der Einleitung, die man sonst nicht so hört. Habe mich dann nur gefragt, was macht er in dieser Umgebung. Auch er scheint sich jetzt einen Namen als Alleskönner zu machen wie so viele, eine Mode, von der ich auch profitiere. Aber er macht das sehr, sehr gut, phantastisch. Die Frage ist nur, was provoziert diese Mode bei den Jungen, die zwar schliesslich alles gut können, aber oft ohne Substanz und Esprit...   


KARL AMADEUS HARTMANN:

STREICHQUARTETT NR. 1 – CARILLON (1933), 3. Satz,  Con tutta forza ("Karl Amadeus Hartmann - Béla Bartók - Zehetmair Quartet", rec. 1999. Thomas Zehetmair, Ulf Schneider, Violinen, Ruth Kilius,Viola, Françoise Groben, Violoncello. ECM-CD).

PF: Es ist phantastisch, mit diesem Instrumentarium solche Musik zu erzeugen; grandios, dieser Gesamtklang. Das hat wirklich Kraft und rhythmische Energie, whow! Wer ist denn das? 


BUGGE WESSELTOFT NEW CONCEPTION OF JAZZ:

LONE ("Moving", Auszug, rec. 2001. Bugge Wesseltoft, grand piano, fender rhodes, synthesizers, samples, programming, voice, + Sextett. Jazzland-CD).

PF: Der Rhythmus läuft maschinell präzis. Wenn man solche Stücke in Bezug auf Energie hört, stellt man fest, dass eine lebendige Entwicklung innerhalb eines Stücks nicht möglich ist. Der grosse Sam Woodyard sprach im Hinblick darauf, dass zum Beispiel manche Stücke am Schluss schneller sind als am Anfang, davon, dass man mit einem Thema eine ganze Geschichte erlebt und wenn man soviel erlebt hat, kann es nicht mehr das Gleiche sein wie am Anfang. Wenn man sich nicht entwickelt, stirbt man und das gilt auch für die Musik. In einem Konzert könnte ich mir so etwas nicht anhören; das ist Hintergrundmusik, als solche aber wiederum zu penetrant, um reiner Background zu sein. Und: Ich esse normalerweise auch nicht künstlichen Joghurt mit künstlichem Erdbeergeschmack...

Pierre Favre, ganz herzlichen Dank, dass du bei diesen ausgiebigen Hörexkursionen so inspiriert und ausdauernd mitgemacht hast. 



 

© JAZZ 'N' MORE Nr.4/2001
© Fotos: Peewee Windmüller



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