Johannes Anders
Musik - Journalist

S I M O N E  K E L L E R

Text und Fotos: Johannes Anders

Simone KellerSimone Keller wurde 1980 in Weinfelden geboren, studierte Klavier an der Musikhochschule Zürich bei Hans-Jürg Strub und schloss 2006 mit dem Konzertdiplom ab. Daneben studierte sie in der Liedklasse von Daniel Fueter und Hans Adolfsen, nahm Orgel- und Hammerflügelunterricht und erhielt verschiedene Preise und Auszeichnungen (u.a. 1. Preis beim Landolt-Wettbewerb für Klavier und EMCY-Kammermusikpreis). Sie tritt in verschiedenen Formationen und Stilrichtungen auf, unter anderem mit dem Collegium Novum Zürich, dem Ensemble TaG und dem Musikkollegium Winterthur. In den letzten Jahren war sie als Gast bei vielen Schweizer Festivals wie den Tagen für Neue Musik in Zürich und dem Schweizer Tonkünstlerfest zu hören, in Europa bei den Weimarer Frühjahrstagen, der Săptămâna Internaţională a Muzicii Noi (Bukarest) und in Asien bei der New Music Week in Shanghai. Sie hat einige Einspielungen mit vorwiegend zeitgenössischer Musik für das Schweizer Radio DRS und verschiedene andere Labels aufgenommen und ist als Opernkorrepetitorin und Theatermusikerin tätig. Im Rahmen der Kompositionswerkstatt des Luzerner Sinfonieorchesters engagiert sie sich regelmässig für die Vermittlung Neuer Musik.

FRANZ LISZT (1811-1886):
Sonate für Klavier, h-Moll (1852/53)
1.) FAZIL SAY, *1970 (“Lucerne Festival am Piano” 2002. DRS 2 2002).
2.) MAURIZIO POLLINI, *1942 (“Lucerne Festival Sommer” 2008 „Pollini Projekt 1“. DRS 2 2008).

SK: Das ist ein toller Einstieg. Ich komme gerade von einer langen Probe und finde es total mitreissend, das zu hören. Was mir bei beiden Aufnahmen besonders gefallen hat ist, dass beide einen leidenschaftlichen Zugriff haben. Und da geht dann auch mal hier und da ein bisschen was daneben… JA: … bei beiden? SK: … kommt drauf an wie man es gewichtet. Beide schiessen übers Ziel hinaus aber in einem positiven Sinne. Ich schätze das durchaus, wenn Pianisten risikoreich spielen und es sind ja auch Liveaufnahmen; im Studio wärs sicher eine andere Frage. Man sieht auch richtig die beiden vor sich, wie die am Klavier arbeiten und kämpfen, und da gehen vielleicht manchmal Finessen verloren. Aber ich finde trotzdem, gerade in der ersten Aufnahme sind auch schöne leise Farben gelungen, es gibt viele schöne Farbwechsel und es kriegt dadurch etwas Heroisches, Sinfonisches - beide Aufnahmen aber absolut mitreissend. Sie wirken jedoch so, als ob sie der Aufgabe nicht ganz gewachsen sind, sie ein bisschen kämpfen…  JA:…ist ja auch ein technisch sehr schweres Stück…SK: …    aber der Kampf ist ja auch ein Ausdruckswert für das Stück und würde alles souverän klingen, wäre das ja auch schade. Ich habe eigentlich Sympathie für beide Aufnahmen und finde, dass sie vom Zugriff her erstaunlich nahe beieinander sind. Bei der ersten gefiel mir besonders gut, dass hier sehr durchsichtig mit dem Pedal umgegangen wurde, die zweite war da etwas pauschal, was aber eventuell an der Qualität der Liveaufnahme lag, bei der alles etwas matter klang.

Simone KellerKARLHEINZ STOCKHAUSEN (1928-2007):
Klavierstück X (1954/61)
NICOLAS HODGES, *1970 (“Lucerne Festival am Piano“ 2010, Auszug aus dem 23-Minuten langen Stück. DRS 2 2010).
SK: Eine grossartige Aufnahme, ich bin total begeistert, natürlich von der Virtuosität, aber auch vom Spielwitz und dem erzählenden Gestus; beides hat diese Aufnahme und das braucht es bei dieser Musik, die so viel Aktionen hat, sonst gibt es schnell eine Grauwirkung und irgendwann es ist einfach nur noch aktionsreich. Hier wird einem jedoch so viel erzählt, ist es so witzig und abwechslungsreich - und da ist auch jemand am Werk, der sein Handwerk absolut beherrscht - ich könnte das bis zuende hören… JA: Es ist der Nicolas Hodges… SK: … habe ich mir fast gedacht, den finde ich toll!

BRAD MEHLDAU (*1970):
Lament for Linus, Mehldau (“The Art Of  The Trio“, Vol. One, rec. 1996. B. Mehldau, p, Larry Grenadier, b, Jorge Rossy, dr. Warner-CD).
SK: So schön, wunderschön ! Du sprachst vom kontrastreichen Aufbau Deines Vorspielprogramms. Ich finde aber, dass es durchaus auch etwas Verbindendes zur Spielweise von Hodges gibt, denn auch hier gibt es einen sehr erzählerischen Gestus und das gefällt mir immer sehr gut, wenn man Musik wirklich auch als eine Sprache begreift und versucht, dem Zuhörer etwas zu erzählen, man mitgeführt wird -  und hier auch besonders schön in der Interaktion mit den Kollegen, wie vital die aufeinander eingehen, zusammenspielen. Ist es Brad Mehldau? JA: ja… SK: Ich habe ihn ein paar mal live erlebt.  

Simone KellerKEITH JARRETT (*1945):
DIMITRI SHOSTAKOVICH, 1906-1975: Prelude and Fugue No. 2 (“24 Preludes And Fugues op.87”, rec 1991. Keith Jarrett, p. ECM New Series-2CD).  
SK: Phantastische Präzision und Leichtigkeit,  das wäre live wahrscheinlich nicht ganz so möglich… Extrem schön auch, wie die Polyphonie rausgearbeitet wird und man die ganze Zeit in der Polyphonie auch noch eine Binnenpolyphonie entdeckt – phantastisch. JA: Der Pianist ist übrigens Keith Jarrett… SK: Ach so, lustig, das hätte ich dem gar nicht zugetraut, obwohl ich wusste, dass er auch Klassisches spielt, aber in dieser Präzision und Leichtigkeit… Wahnsinn.

CRAIG TABORN (*1970):
Glossolalia, Taborn (“Avenging Angel“, rec. 2010. Craig Taborn, piano solo. ECM-CD).
JA: Voll improvisiert! SK: Das erkennt man. Sehr schön, ein spannender Pianist oder eine Pianistin und natürlich beeindruckend, wenn jemand so improvisieren kann - ist jemand, der alle pianistischen Möglichkeiten hat, wobei die Gefahr gross ist, dass es geschwätzig werden könnte, aber hier hat der Pianist, die Pianistin soviel zu sagen und die ganzen Transformationen, die Entwicklungen sind unglaublich spannend mitzuverfolgen, man geht mit auf dieser absolut unvorhersehbaren Reise, ist ständig überrascht, welche Wendungen es nimmt, muss ein unglaublich wacher Geist sein.

JOHANN SEBASTIAN BACH (1685-1750):
Contrapunctus IV (aus “Die Kunst der Fuge”, BWV 1080)
1.) GLENN GOULD, 1932-1982 (“Glenn Gould in Moscow“, rec. 1957. 2:30. Melodija-CD).
2.) GLENN GOULD (“The Art Of The Fugue“, rec. 1962. Glenn Gould, organ. 3:20. Columbia-CD).
3.) GRIGORY SOKOLOV, *1950 (“Die Kunst der Fuge“, rec. 1982. 3:24. OP111/naïve-CD).
4.) PIERRE-LAURENT AIMARD, *1957 (“Die Kunst der Fuge“, rec.2007. 3:04. ,DG-CD ).
SK: Schöner Vergleich, wirklich sehr unterschiedliche Aufnahmen, jede mit komplett unterschiedlichem Zugriff. Ich persönlich habe schon einen klaren Favoriten: Die Dritte gefällt mir ganz besonders gut, die Einzige, die im Bemühen um Darstellung der Polyphonie ganz stark mit Gewichtungen arbeitet, was der Polyphonie sehr förderlich ist; alles ist so durchhörbar und man bekommt hier am meisten vom ganzen architektonischen Gefüge mit. Obwohl üblichweise gerade bei der Orgel bei den verschiedenen Stimmen eine gute Durchhörbarkeit sein sollte, finde ich die Dritte am besten, auch bezüglich des Spielflusses. JA: Es ist auch die Längste der Beispiele. Die Schnellst war die Erste… SK: …die ich auch sehr spannend fand, war halt manchmal etwas gestampft aber durchaus auch alles sehr geführt. Die Vierte hatte es hier im Vergleich etwas schwer. Bei solchen Vergleichen ist das Spannende auch immer die Dramaturgie der Abfolge und wenn die Vierte am Anfang gestanden hätte, hätte ich die ganz anders gehört… JA: …derartige Vergleiche programmiere ich immer chronologisch… SK: Nach den Dreien fand ich die Vierte jetzt ein bisschen zu pauschal, zuviel Hall, zuviel Pedal, obwohl natürlich auch die eine gute Aufnahme ist. Aber nach den dreien vorher hatte die irgendwie nichts Neues mehr zu sagen, aber schön, die auch dabei zu haben mit dieser Art Bachspiel, wo es ein Stück weit auch um Klangfülle geht.  

Simone KellerMARILYN CRISPELL (*1947) & GERRY HEMINGWAY (*1955):
Axial Flows, Crispell/Hemmingway (“Affinities“, rec. 2009. M. Crispell, p, G. Hemmingway, vib, [+ dr]. INTAKT-CD).
SK: Dieses Meditative gefällt mir sehr gut; zuerst glaubte ich, dass das in diesem Bereich bleibt – aber wie sich das dann immer mehr verdichtet, die Spannung gesteigert wird und sich die beiden miteinander verflechten, sich das Ganze zusammenfügt… - ob das voll improvisiert ist, bin ich mir nicht ganz sicher, diese Präzision des Zusammenspiels…JA: … sind halt beides ganz grosse Könner der Improvisation.   

GALINA USTVOLSKAYA (1819-2006):
Piano Sonata No. 6 (1988)
1.) MARIANNE SCHROEDER, *1949 (“Galina Ustvolskaya: Piano Sonatas 1-6”, rec. 1994. hatNOW series-CD).
2.) MAKUS HINTERHÄUSER, *1958 (“Galina Ustvolskaya: Piano Sonatas”, rec. 1998. Collegno-CD
3.) SABINE LIEBNER (“Galina Ustvolskaya: Complete Works For Piano”, rec.2008. NEOS-CD).
SK: (Nach Eins:) Können wir von den nächsten Beispielen vielleicht nur die Hälfte hören? -  ist so heftige Musik… JA: … ja, mir fährt die auch unheimlich ein, fast körperlich. SK: Zufälligerweise gehe ich im Herbst mit dieser Sonate ins Studio, deswegen interessiert mich das natürlich, obwohl ich Bedenken habe, ob ich das alles realisieren kann, was mir vorschwebt. Für mich ist diese Musik so unglaublich kraftvoll und geht in jeder Hinsicht an die Grenze; in den Aufnahmen, die es bisher gibt, höre ich das aber noch nicht so, in der zweiten vielleicht am ehesten, aber es muss noch dringlicher sein… Die Ustvolskaya hat gekämpft um ihre Musik und wollte so viel damit und das Bisherige ist einfach noch zuwenig in dieser Hinsicht. Andererseits muss ich dann sehen, wie das praktisch geht, denn wenn ich das im Konzert spiele, schaffe ich das vielleicht einmal, auf das Klavier zu prügeln, mit Fäusten, Unterarmen, mit dem ganzen Arm geschlagen…; aber wenn man dann im Studio ist, kann man sich ja nicht die ganze Zeit verausgaben, da kommt man dann wahrscheinlich irgendwann an eine körperliche Grenze. Auf den Aufnahmen klingt es dann manchmal schnell etwas banal; erst kommen die grossen Klangmassen, dann die Pausen, bei denen man sich als Hörer ein suggestives Bild macht, dass da jemand komplett ausser Atem sich verausgabt hat und das klingt dann einfach so: Pause, weiter geht’s und dann kommen diese Cluster usw. - mir ist das zuwenig. Vielleicht sind das aber auch Probleme der Aufnahme, an denen ich möglicherweise auch scheitere. Klar, das ist Livemusik, aber bei den Aufnahmen eins und drei haben sich die Pianisten geschont, das wirkt so zahm, obwohl diese Musik alles andere als zahm ist. Zumindestens, was bei der zweiten Aufnahme gemacht wird, müsste da rein.

 

ART TATUM (1909-1956):
Tiger Rag (“Piano Starts Here”, rec. 1933. Art Tatum, piano solo. Columbia-LP).
SK: Hast Du die Platte schneller abgespielt? JA: Nein, nein!... SK: … klingt so absurd schnell, mitreissend, aber nicht wie eine Demonstration von Fingerfertigkeit - hat so viel Witz…;  man glaubt immer, man weiss, wo es langgeht, aber dann kommt eine kleine Wendung mit überraschenden Momenten - grossartige gemacht - Gute-Laune-Musik.

Simone KellerLENNIE TRISTANO (1919-1978):
Requiem, Tristano (“Lennie Tristano“, rec.1955. Lennie Tristano, solo piano. Atlantic-LP).
SK: Schön in dieser Schlichtheit, sehr gut ausgewählt, genau die richtige Musik, um von den vorher gehörten Ustvolskaya-Aufnahmen und dem artistischen Art Tatum-Zwischenspiel wieder herunterzukommen. Hat mir sehr gefallen, jeder Ton sitzt am richtigen Fleck, eine eindrückliche Atmosphäre. Wer ists? JA: … der blinde amerikanische Pianist Lennie Tristano, der in seinem Debütalbum 1955 diesen getragenen Blues als von Trauer geprägtes “Requiem“ auf den kurz vorher verstorbenen grossen Bebop-Pionier Charlie Parker einspielte. Tristanos 1949 mit einem Sextett eingespieltes „Intuition“ gilt mit seinen kontrapunktisch anmutenden Liniengeflechten übrigens als erstes völlig frei improvisiertes Stück der Jazzgeschichte, lange bevor der sogenannte Freejazz die Jazzgeschichte bewegte.

FRANZ SCHUBERT (1797-1828):
Klaviersonate a-moll, op. 42, D 845, 3. Satz Scherzo
1.) FRIEDRICH GULDA, 1930-2000 (“Schubert, Debussy, Ravel“, rec. 1967. Andante-4CD).
2.) FRIEDRICH GULDA („Berühmte Klavierwerke“, rec. 1978. Amadeo-CD ).
SK: Die zwei Aufnahmen fand ich schön ausgewählt, sie sind besonders leichtfüssig, mit leicht geformtem Klang. Die Erste war unheimlich schön, so leicht hingeworfen, wie ein Hauch, mit wunderbarer Pianistik. Bei der Zweiten, sehr nah aufgenommen, dachte ich zuerst, die hat etwas Unsinnliches, wenn man sich aber in dieses gestochenen Scharfe einhört, kriegt das Ganze doch sehr viel Reiz. Auch die Erste hatte eine unglaubliche Leichtigkeit, wobei man dann fast etwas Angst bekam, ob die dann oberflächlich wird…; die Zweite hatte dann viel mehr auch Momente der Nachdenklichkeit, die mir bei einem derartigen Stück schon sehr gefallen. JA: Beide waren übrigens mit Friedrich Gulda, das zu Ehren von Martha Argerich, die am 5. Juni ihrem 70. Geburtstag feiern konnte. Ich dachte, man sollte auch ihren von ihr so geschätzen und bewunderten Lehrer zu Wort bzw. Ton kommen lassen. Gulda hat mich positiv überrascht, ich habe ihn nicht so oft gehört, sollte das aber mehr tun.

MARTHA ARGERICH (*5.6.1941):
1.) FRÉDÉRIC CHOPIN, 1810-1849: Piano Sonata no. 3 in b-minor, op. 58, 4. Satz Finale,  Presto, non tanto (“argerich plays chopin”, rec. 1967. DG-CD.)
2.) ALBERTO GINASTERA, 1916-1983: Danzas argentinas, op. 2, 3 Danzas (“Live From The Concertgebouw”, rec. 1978/79. EMI-CD).
3.) SERGEI  PROKOFIEV, 1891-1953: Piano Sonata No. 7,  B-dur, op.83†, 1. Satz Allegro in quieto (“Live From The Concertgebouw”, rec. 1978/79. EMI-CD).
SK: Habe keine Ahnung, wer das war, bin aber sehr gespannt… JA: … ich habs natürlich mit der Auswahl der Stücke auch nicht gerade einfach gemacht… SK: Auf jeden Fall drei tolle Aufnahmen, mit einer so hohen Präzision und absoluten Souveränität in jeder Hinsicht und das alles live!, nicht nur in den brillianten Passagen, auch in den lyrischen, und was sich der Interpret, die Interpretin da für minime Freiheiten nimmt, das klingt so selbstverständlich, zugleich aber auch so phantasievoll, das ist alles sehr reizvoll zu hören. Einzig die Klanglichkeit, die Klangfarbenvielfalt, die man im Konzertsaal besser hört, die fehlt mir wie hier oft bei Live-Aufnahmen. Wer ists? – Die Live-Aufnahmen, die ich von ihr kenne, sind – unkontrolliert ist ein böses Wort – noch impulsiver, weshalb ich nicht sofort auf sie gekommen bin, aber toll, sie so zu hören und schön, wenn man mal so überrascht wird. JA: Sie hat ja morgen ihren 70. Geburtstag und da dachte ich, sie muss unbedingt auch bei uns hier präsent sein.    

Simone KellerCLAUDE DEBUSSY (1862-1918):
Feux d’artifice (aus Préludes Band 2)
1.) FRIEDRICH GULDA,  1930-2000 (“Friedrich Gulda spielt Impressionisten“, rec. 1961. Amadeo-CD)
2.) FRIEDRICH GULDA (“debussy friedrich gulda préludes vol. 1 & 2“, rec.1969. MPS-2LP).
3.) ARTURO BENEDETTI MICHELANGELI, 1920-1995 (“Claude Debussy Préludes 2.  Buch”, rec. 1988. DG-CD).
4.) KRYSTIAN ZIMERMAN, *1956 (“Claude Debussy Préludes”, rec. 1991. DG-2CD).
SK: Das letzte war Zimerman! Ich bin so hin und weg von dieser Aufnahme, so ein Wurf, gegen den alle anderen für mich verblassen. Ich habe ihn schon immer geschätzt, aber diese Aufnahme ist aussergewöhnlich, ungeheuer sprechend und erzählerisch gemacht, grossartig, gerade im Vergleich zu den anderen. Die anderen sind natürlich auch gut, aber bei dieser hier fehlen einem einfach die Superlative und ich bin in jeder Hinsicht immer wieder neu begeistert. JA: Vielleicht ist dieser Vergleich auch etwas unfair… Gibt es denn bei den anderen drei irgendwelche Unterschiede? SK: Wie so oft bei diesen historischen Aufnahmen musste ich mich zuerst etwas einhören. War die erste Gieseking? JA: Nein, die ersten beiden war Gulda. Ich habe ihn nochmals gebracht, auch anlässlich des Geburtstages von Martha Argerich, weil er, wie sie immer wieder betont, ihr grosser Lehrer war. SK: Bei der Ersten gefiel mir die Marseillaise-Passage ganz besonders, sehr schön, wie das gemacht wurde, ein Zauber, grandios… Bei der Zweiten klang das etwas vordergründig; bei der Dritten – das ist vielleicht etwas pauschal – hat es zuviel Pedal, bzw. ist es die Art, mit dem Pedal umzugehen, worunter die Verständlichkeit der einzelnen Elemente leidet. Aber klar, auch das ist ein sehr guter Pianist oder eine sehr gute Pianistin. Und dann kam die vierte und pustete alles weg, was man zuvor gehört hat.  

STEFAN WIRTH (*1975):
Etüde 5, Stefan Wirth, 2004/2007 (“Der Komponist Stefan Wirth“, rec. 2007, EA. DRS2 2009).
SK: Ich habe das Gefühl, ich müsste das kennen, weiss aber nicht, was das ist (überlegt…). Interessant, das nach Debussy zu hören, hat einen ähnlichen Schwung und Gestus, hat mir sehr gut gefallen, unglaublich dicht komponiert und lebendig gespielt. Wer ist das? JA: Es ist die 5. Etüde von Stefan Wirth. SK: … ist ein Musiker/Komponist, von dem ich sehr viel halte und den ich sehr schätze. JA: Bei dieser Portraitsendung von DRS 2, in der er u.a. seine fünf im Radiostudio Zürich als Erstaufführung eingespielten Etüden vorstellte, betonte Wirth, hier den leider oft beschworenen aber leider viel zu selten realisierten Synergieeffekt zwischen Komponist und Pianist zu nutzen. Es seien die strengsten Stücke, die er je geschrieben habe, wobei er  seine frühere Hinwendung zu den Etuden Ligetis betonte, vor allem aber eine Vorliebe für Vielschichtigkeit in der Musik, wie sie Elliott Carter beschrieben habe.  In der hier vorgespielten Etüde Nr. 5 geht es, so Wirth, “um eine Figur in ganz enger Lage, wo plötzlich sich die Hand öffnen muss und die Figur in einer anderen Lage erscheint, also ein schnelles Kontrahieren aus Dehnen der Hand, ganz eng, ganz weit…; das war für mich die schwierigste der fünf Etuden, an der ich noch am meisten arbeiten muss.“ 

AKA PYGMIES / GYÖRGY LIGETI / PIERRE-LAURENT AIMARD (*1957):
YANGISSA, Aka Pygmies / ETUDE NO 8, György Ligeti, 1923-2006 (“Ligeti / Reich: African Rhythms”, rec. 2001/2002. Aka Pygmies, Gesangs-, Trommel- und Tanzgruppe aus der Zentralafrikanischen Republik,  P.-L. Aimard, piano. Teldec-CD).
SK: Lacht…Die CD habe ich auch und habe die auch live gehört. Ein besonderes Erlebnis dabei, wenn die Aka-Pygmäen mit ihren Baströckchen auf der Bühne stehen und auch eine Art Workshop mit dem Publikum machten, wobei sie nicht verstehen konnten, dass für uns Europäer die Rhythmen so schwer sind, die für sie so natürlich fliessen. Schön, dass diese wahnsinnig komplizierten, komplexen Rhythmen gleichzeitig Volksmusik sein können. In der zeitgenössischen Musik sollte man immer wieder an so etwas denken, daran, dass das halt doch nicht nur hier existiert.

Simone KellerWOLFGANG MITTERER (*1958):
MIXTURE V, Mitterer („Wolfgang Mitterer an der Orgel der Stadtkirche Donaueschingen“, rec. 2007. Wolfgang Mitterer, Orgel, Elektronik, Samples. SWR2 2007). 
SK: Ist das Mitterer? Ich habe ihn mal im Rahmen der Donaueschinger Musiktage gehört. JA: 2001, 2002, 2004 und 2006 wurden hier Werke von ihm uraufgeführt und auch dieses Jahr steht mit “Little Smile“ für Ensemble und Live-Elektronik bei den Musktagen eine Uraufführung auf dem Programm. Die Aufnahmen hier stammen aber von einem Konzert ausserhalb der Musiktage, die vom SWR 2007 in der Stadtkirche Donaueschingen realisiert wurden. Mich fasziniert seine Musik, in welchem Kontext auch immer. SK: Ich finde das auch, dieses Rohe gefällt mir sehr gut und ich habe jetzt auch mit einem Schüler von ihm ein Stück mit Elektronik, Klavier und Gesang/Rezitation gemacht in Zusammenarbeit mit dem Computerstudio ICST in Zürich und auch die haben schon gern mit Mitterer zusammengearbeitet, fanden Vieles von ihm aber auch sehr roh, denn bei Elektronikern ist ja meistens alles so poliert. Aber genau dieses Rohe fasziniert mich.     

KATHARINA WEBER (*1958) & IRÈNE SCHWEIZER (*1941):
IMPROVISATIONEN / gemäss Vorgaben von K. Weber (“Tonart Bern 1996“, Kunstmuseum Bern. Katharina Weber & Irène Schweizer an 2 Pianos. DRS2 live 1996).
SK: Das waren mindestens 2 Flügel. Beim ersten Beispiel gefiel mir gut, was da aus einem kleinen Ausschnitt einer C-Dur-Tonleiter alles entstanden ist - diese minimalartigen Verschiebungen, dieser Reichtum, der daraus entsteht aus diesen eigentlich einfachen Grundelementen. Weißt Du, was dabei die Improvisationsvorgaben sind? JA: Leider nicht genau, ich glaube aber, das waren bestimmte Patterns, Motiv- und Strukturelemente. „Hat Spass gemacht, mit ihr zusammen zu spielen“, erzählte mir Katharina Weber bei einem MUSIK NEU GEHÖRT-Musikprotokoll: “Sie hat sehr aufmerksam reagiert, auch gemäss meinen Vorgaben, obwohl ich das Gefühl hatte, dass sie lieber ganz frei improvisiert“.
(SMZ Nr.11, Nov. 2009: http://www.andersmusic.ch/pdf/01_neu_ge/katharina_weber.pdf
JNM Nr. 3, Jan./Febr.1997: www.andersmusic.ch/01_musik/02_AH/irene_schweizer.html

Simone, herzlichen Dank für Deinen Besuch in Nürensdorf

© JAZZ 'N' MORE Nr. 4 + 5 / 2011
Fotos © Johannes Anders

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