Johannes Anders
Musik - Journalist

ANTON HAEFELI

 Text von Johannes Anders

Anton Haefeli 1Geboren 1946 in Brugg, Schweiz. Nach dem humanistischen Abitur Ausbildung 1966–71 an der Universität Zürich (Musikwissenschaft bei Kurt von Fischer sowie Geschichte und Kunstgeschichte) und an der Musikhochschule Zürich (unter anderem Klavier, Schulmusik und bei Rudolf Kelterborn Musiktheorie). Dort Promotion zum Dr. phil. und Erwerb des Diploms für das Höhere Lehramt. Hier Diplome unter anderem als Schulmusik- und Musiktheorielehrer. Seit 1984 Dozent für Musikgeschichte und zusätzlich seit 1987 Sachbereichsleiter Ausbildung in der Musikhochschule der Musik-Akademie Basel. Forschungsschwerpunkte: Musik des 20. Jahrhunderts und Musikpädagogik. Bücher: Die Geschichte der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik von 1922 bis zur Gegenwart, Zürich 1982; Vom musikpädagogischen Eros. Die Kunst, das Musiklehren lieben zu lernen, Aarau 1998; Jacques Wildberger oder die Lehre vom Andern, Zürich 1996 (Hrsg.); Der Grad der Bewegung. Tempovorstellungen und -konzepte in Komposition und Interpretation 1900–1950, Bern 1998 (Mithrsg.). Der Musikwissenschaftler, der sich früher auch als Dirigent und Vokalist betätigte und weiterhin auch Musikkritiker und Autor ist, veröffentlichte unter anderem kürzlich eine umfangreiche Arbeit zum Thema Bruckner und Celibidache (NZZ, 16.12.00).


PIERRE BOULEZ:
„Sur Incises pour trois pianos, trois harpes, trois percussion-claviers“ (1996/98)
(„Sur Incises“, rec.1999, Ausschnitt. Soloists of the Ensemble Intercontemporain / IRCAM.  DG-CD/2000).

AH: Dieses Beispiel ist so unglaublich reichhaltig, weshalb es sehr schwer ist, alles sofort einzuordnen. Ich kenne das Stück nicht, finde es aber sehr interessant, weil es höchst komplexe Musik ist: Klaviere, Mallet-Instrumente, eine ganz komplizierte Rhythmik, viel heterophone Elemente, oft in Mikroabständen, eine zunächst undurchdringlich scheinende Polyrhythmik, feine Kontrapunke.  Es gibt Muster, die sich zu wiederholen scheinen, was aber ohne Noten nicht genau festzustellen ist. Ich habe von Anfang an gern zugehört, sehr spannende Musik!


ORNETTE COLEMAN QUARTET:
„Change Of The Century“
(„Change Of The Century“, rec.1959. Ornette Coleman, as, Don Cherry, tp, Charlie Haden, b, Billie Higgins, dr. Atlantic-LP.)

Anton Haefeli2AH: Das ist der Jazz, der mir in diesem Bereich am besten gefällt (er könnte sogar noch freier sein!). Er ist zum Teil noch modal, gewisse Tonarten oder eben Modi sind ganz klar erkennbar. Ebenso gefällt mir die Komplexität der Rhythmik sehr, auch wenn in einer tiefen Stimme immer eine Art schillerndes Ostinato zu hören ist, was jedoch einerseits das Fundament bildet, andererseits aber auch eine Differenz zu den Soloinstrumenten schafft. Und das ergibt eine Spannung, auch wenn das zuerst teilweise immer gleich zu tönen scheint. Man ist also beim ersten Hören fast etwas überfordert und müsste das, wie eben auch bei Boulez, mehrmals hören. Lustigerweise erinnert es mich an Boulez, nicht vom Stilistischen her, aber durch gewisse satztechnische Wirkungen, vor allem durch diese komplexe Polyrhythmik, die sich hier allerdings durch die Improvisation ergibt. Es beginnt wahnsinnig schnell, mit unglaublich vielen differenzierten Abweichungen innerhalb der Skalen, die man fast nicht mitkriegt. Dann wird’s ein bisschen ruhiger, es kommt eine fast gegenläufige Bewegung, das Ostinato wird kräftiger, steigert sich, während die Saxophonstimme reduziert wird, mit Pausen durchsetzt ist... Am Anfang spielt er fast pausenlos, fast sprachähnlich, was mir sehr gefällt; der Ton ist nicht schön, und das ist gut so, wie das Leben, das auch hässliche Seiten kennt (JA: Es handelt sich um ein Plastiksaxophon). Und wie charakteristisch ist diese Sprache! Sie unterliegt keinerlei McDonaldisierung, die alles gleich klingen lässt. Bei der Trompete ist das nachher ähnlich; sie reagiert auf das Vorangegangene und nutzt ihre Möglichkeiten, auch wenn das vom Instrument her nicht so virtuos sein kann. Später bringt die Trompete dann auch mal ein Zitat, das wie eine Art Thema wirkt, auf dem das Stück zu beruhen scheint, was dann auch das einzig Traditionelle in dieser Musik ist. 
JA: Wenn Du nichts dagegen hast, würde ich Dir jetzt als Vergleich gern vorspielen, wie Karlheinz Stockhausen in einer 1964 vom Südwestfunk ausgestrahlten Sendung mit dem Titel „Ornette Coleman – Stil undÄsthetik“ auf das eben gehörte Stück reagiert hat und welch spontane Analysen er dabei formulierte. (In einem ersten, rund viertelstündigen Statement betonte Stockhausen zuerst, dass er nicht gewusst hat, dass es so etwas gibt und dass er fest entschlossen sei, diese Platte im nächsten Kompositionskurs eingehend zu analysieren. „Was ich zuerst einmal beobachten möchte, ist der Eindruck (...) einer Monotonie, wenn man nicht genau zuhört, und der einer unerhörten Differenziertheit, wenn man zuhört.“ Dieser Einwurf wird, so Stockhausen weiter, „sehr oft auch gegen die wirklich zeitgenössische, die gegenwärtige Kunstmusik gemacht, und wir sind uns tatsächlich fast so nah, dass uns nur noch wenige (?) Kriterien trennen, nämlich im Grunde die der notierten Musik und die der Augenblicksmusik. (...) Das erste, was hier wirklich neu ist, ist die Behandlung der Dynamik. Die Dynamik wird plötzlich aktiv, sie hat nicht nur koloristische, verbrämende Funktion, sondern wir hören gleich zu Beginn sehr spitze Akzente, die das Kontinuierliche des melodischen Flusses (...) gliedern, (...) eine hochdifferenzierte Sprache, die die Periodizität, die Regelmässigkeit, die Wiederholung ausschaltet.“ Soweit einige Zitatbeispiele aus dem Anfang von Stockhausens eingehender Analyse.)
AH: Stockhausen spricht mir hier sehr aus dem Herzen, zum Beispiel dort, wo er Ähnliches zum Verhältnis von Monotonie und Differenziertheit feststellte. Wenn die Unterschiede zwischen den zwei Musiken schon nicht so gross sind, also bei der improvisierten Musik ein ähnlicher Grad an Komplexität und Differenziertheit erreicht werden kann wie bei der notierten, kann man zum Schluss die Frage stellen, welche ist humaner: die serielle Musik beispielsweise, die so schwierig zu spielen ist, weil sie so differenziert notiert ist, im Endergebnis aber weniger farbig ist, oder improvisierte Musik, die auch ein hohes Können voraussetzt, die man aber nicht in den Kopf pressen muss, bei der man sich nicht dem Diktat eines Komponisten beugen muss, der alles bis ins kleinste Detail genau vorschreibt.


DIMITRI SCHOSTAKOWITSCH:
„Streichquartett Nr. 13“ (1970)
(„Edition Lockenhaus“, rec. 1985, Ausschnitt 2. Satz. Gidon Kremer, Thomas Zehetmair, violin, Nobuko Imai, viola, Boris Pergamentschikow, cello. ECM-LP.)

Anton Haefeli 3AH: Das könnte ein Streichquartett von Schostakowitsch sein, eines der letzten von seinen insgesamt fünfzehn. Ich bin spät zu ihm gekommen und habe mir erst kürzlich die Gesamtausgabe mit dem Emerson-Quartett gekauft. Ich hatte mich lange Zeit nicht mit Schostakowitsch beschäftigt, weil er unter dem Banne Adornos stand, von ihm sozusagen exkommuniziert wurde. Dieser hatte mehr oder weniger alles verdammt, was osteuropäisch war. Als junger Mann bin ich sehr in der Tradition der Adornoschen „Philosophie der neuen Musik“ aufgewachsen, und was Adorno sagte, war für uns damals sozusagen „Neues Testament“; wir hatten, wie ich einmal sagte, den lieben Gott durch Adorno ersetzt, was natürlich auch nicht das Gelbe vom Ei war und ich schliesslich auch gegen Adornos Verdikte kritisch werden musste.  Zunächst habe ich mir alle Sinfonien erarbeitet und bin jetzt an den Streichquartetten. Schostakowitsch muss man aus der Tradition und auch aus der Unterdrückung im stalinistischen System hören, dessen Eingriffen er permanent unterworfen war. Auch in diesem Ausschnitt merkt man die Tiefe dieser Musik, den Ernst; und ganz wichtig für Schostakowitsch ist eine Seufzerfigur, die immer wieder kommt, eine uralte Leidensfigur, die er aber nochmals zu ganz neuer Kraft steigert. Verdi verwendete sie schon, aber man kann den Seufzer, diese kleine Sekunde, als musikalisches Symbol für Leid noch viel weiter zurückverfolgen. Die Interpretation beeindruckt durch unglaublich reiche, sprachähnliche, musikalische Ausdruckskraft von allerhöchstem, eindringlichem Charakter, eine nicht epigonale Art, fernab einer heilen Welt, sehr harsch manchmal, sehr extrem, an die Grenzen des Klanges gehend. Ich bin überrascht von der Qualität dieser Aufnahme.


SYLVIE COURVOISIER – JACQUES DEMIERRE:
„Araché“, „Hors“
(„Deux Pianos“, rec. 2000. Sylvie Courvoisier + Jacques Demierre, p. Intakt-CD.)

AH: Da wird zuerst ein Motiv exponiert, das dann verdichtet und durch immer komplexere Akkorde überlagert wird. Das erinnert dann auch schon wieder an komponierte Klaviermusik, wie wir sie am Anfang hörten, für mich allerding­s - in polymetrischer Hinsicht - weniger komplex zum Anhören als anderes heute, denn hier ist eine Tendenz zur Wiederholung, mit zwar unheimlich dichter Akkordik, was mir sehr gut gefällt, aber rhythmisch ist mir das Stück doch etwas zu einfach  - immer wieder dieses Innehalten, das eine Art Muster ergibt.
JA: Ich glaube, wir sollten unbedingt noch ein zweites Stück hören, wir haben noch viel Zeit.  
AH: Ich bin sehr froh, dass wir das noch gehört haben (die Problematik, aus Zeitgründen sonst nur jeweils ein Stück einer Platte zu hören, ist uns ja beiden bewusst). Hier hört man also erst richtig, was beim vorigen Stück noch nicht so deutlich war, dass es zwei Klaviere sind, ein Klavierduo. Und das ist jetzt auch eine ganz andere Musik. Es wird zwar auch ein Motiv exponiert, aber ein ganz anderes, schnell abgespultes; zusätzlich ist eines der Klaviere präpariert, und die Resonanzfähigkeit der Instrumente wird ausgenutzt. Wir hören also ein Spiel mit ganz verschiedenen Ebenen verschieden hergestellter Töne,  zum Beispiel schöne, wunderbare, aleatorisch zustandekommende Obertöne, die lange nachklingen und in Kontakt miteinander treten, was so nicht gesteuert werden kann. Das ist hochkomplex, aber auch leise, zwingt einen, sehr genau hinzuhören, um das unglaublich feine Dialogisieren der beiden und das Spiel mit den Obertönen mitzubekommen. Fast möchte man sagen, die Instrumente selbst hören aufeinander.


OLIVIER MESSIAEN:
„Il Regard de l’etoile: Modéré“ (1944)
(„Vingt Regards“, rec. 1999. Pierre-Laurent Aimard, piano. Teldec-CD.)

AH: Das scheint Messiaen zu sein. Da gibt’s so ein Soggetto-Motiv, das sich ostinat durch das ganze Stück durchzieht, auch mit einem Seufzer am Anfang, aber einer Fortsetzung, so dass es nicht der Seufzer ist wie bei Schostakowitsch und Kurtág. Man hört ein Motto, eine Kombination, die ein Wort auszudrücken scheint, das sich durch alle kontrapunktischen Varianten durchzieht, auch in Spiegelung und Krebs, wie mir scheint, umrahmt mit den typischen Messiaenschen Techniken, Heterophonie, komplexe Rhythmik, kombinatorische Kontrapunktik. In diesem problematischen Zyklus gibt es sehr unterschiedliche, literarisch und mystisch beeinflusste Dinge. Ich liebe aber jene Stücke von Messiaen, die nicht so religiös-mystisch geprägt sind.

 

Ende Teil 1

 ©JAZZ 'N' MORE Nr. 1/2001 (Teil 1)
Fotos: © Peewee Windmüller

Teil 2

 

Anton Haefeli4Der Musikwissenschaftler, Autor und Musikkritiker Anton Haefeli, Dozent und Sachbereichsleiter Ausbildung an der Musik-Akademie Basel, wurde eingeladen, weil er bereits vor Jahren meiner Bitte gefolgt war, auf zwei DRS-Live-Aufnahmen vom Jazz Festival Willisau 1979 mit den Konzerten der Duos Max Roach und Anthony Braxton sowie Max Roach und Archie Shepp spontan zu reagieren, was zu prägnanten Kommentaren führte. (Die Sendungen wurden am 12.Januar sowie 2. Februar 1980 über SR DRS 2 ausgestrahlt.)    


ANTON BRUCKNER:
„Scherzo“ aus der 4. Sinfonie (1873/74)
(rec. 1994. SWF-Sinfonieorchester Baden-Baden, Leitg. Michael Gielen. SWF 179 CD/Sampler.)

AH: Ist eine ganz hervorragende Interpretation, tönt wie Bruckner und ich kenne alle Bruckner-Sinfonien, aber das hier kenne ich nicht. (Nach Bekanntgabe:) Das ist nie und nimmer aus der 4. Sinfonie von Bruckner!  –  oder es ist eine Fassung die ich nicht kenne, vielleicht die allererste Fassung, eine Art Urfassung, die aber komplett anders ist und mit derjenigen, die üblicherweise als dritter Satz der 4. Sinfonie gespielt wird, nichts zu tun hat. Aber eine grossartige Interpretation, phantastisch gespielt! ( Nachsatz: In einer Kritik in der FAZ vom 26.4.1994 wurde übrigens u. a. Haefelis Vermutung bestätigt, dass Gielens vorbildliche Einstudierung von einer frühen Fassung beweist, dass diese „gegenüber Bruckners Spätzeit ein völlig anderen Kriterien gehorchendes Kompositionsprinzip zeigt, bei dem das musikalische Experiment noch höher rangiert als der Formgedanke“.)


OSCAR PETERSON TRIO:
„Con Alma“
(„The Jazz Soul Of Oscar Peterson“, rec. 1959. Oscar Peterson, p, Ray Brown, b, Ed Thigpen, dr. Verve-CD.)

AH: Das ist beim ersten Höreindruck zuerst einmal insofern interessant und spannend, als es mehrere Anfänge hat, auch, dass der Kontrabass am Anfang gestrichen ist. Dann zupft er ein Motiv, das mich an irgend etwas erinnert, wie wenn es ein Zitat wäre. Wenn dann das Stück nach dieser grossen Einleitung mit dem Thema beginnt, wie das auch in der „klassischen“ Literatur zu finden ist, kommt eine sehr gebundene Melodie, eine Periode, wie wir sagen, mit Vordersatz und Nachsatz und in sich je auch nochmal zweiteilig – also eine ganz klassische Liedform. Der Bassist streicht dann wieder, so dass das Ganze fast etwas choralartig wirkt. Was für mich im ersten Moment seltsam, aber auch überraschend und deshalb ambivalent wirkt, ist, dass später ein Schnitt kommt zwischen Einleitung und Beginn der Improvisation, und dieser Schnitt kommt mir ein bisschen zu plötzlich, was aber natürlich auch wieder spannend ist. Und dann beginnen die grossen Girlanden der Pianoimprovisation, zwar teilweise etwas formelhaft wirkend, aber der Pianist ist ein Könner, ganz klar. Was allerdings der Ornette Coleman mit seinen schnellen Linien macht, ist für mich viel anregender.


WOLFGANG RIHM:
„Morphonie“ für Orchester mit Solostreichquartett (1972)
(„Morphonie/Klangbeschreibung“ Ausschnitt, rec. 1974. Sinfonieorchester des Südwestfunks Baden-Baden, Leitung Ernest Bour. SWR-„Faszination Musik“-CD / Hänssler-Classic.)

AH: Das ist Musik, die mir sehr gefällt, sehr abwechslungsreich und vielschichtig – Musik, die alle Bereiche auslotet und an die Grenzen geht zwischen ganz leise und ganz laut, mit stehenden Klängen wie hier am Ende des Ausschnitts, am Anfang dagegen mit punktuellen Ereignissen, die aus dem Nichts heraus plötzlich in ganz heftige Dramatik umschlagen. Einzelne Instrumente (des Streichquartetts ?) werden zuweilen im herkömmlichen Sinne solistisch eingesetzt, dann wieder kammermusikalisch dicht verwoben, wobei auch Geräuschhaftes zu hören ist. Helmut Lachenmann, den ich sehr liebe, wird es nicht sein; er ist viel extremer, etwa im Ausloten von Geräuschen, geht mehr in die radikale Tiefe, ist schwieriger zu hören.  


SIMON NABATOV – NILS WOGRAM – DUO:
„sequenza“, „dream on“, „as we don’t know it“
(„as we don’t know it“, rec. 1998. Nils Wogram, tb, Simon Nabatov, p, solos, duos. Konnex-CD.)

AH: Tolle Sache! Das sind zwei ganz hervorragende Instrumentalisten. Der Posaunist oder die Posaunistin ist so virtuos, dass es schwer ist zu erkennen, welches Instrument es ist. Ich glaube aber, es ist die Sequenza für Posaune von Luciano Berio, unglaublich gut gespielt, kam mir wie neu vor, so frisch und farbig. Und dann dieses Spiel mit den Dämpfern ...  Das Klavierstück ist so toll aufgebaut, dass es wie komponiert wirkt: Wir hören da wieder ganz genaue Motive, zum Beispiel dieses Tonleitermotiv, das sich immer in einem polyharmonischen Raum auflöst, dann ein ganz schneller Rhythmus auf einem Ton; das ist hochgradig durchdacht. Wenn das wirklich improvisiert ist, kann ich nur Chapeau dazu sagen; live komponierte Musik müsste man das nennen. Und dann das Duo: das bringt wieder alles, ähnlich wie es Uri Caine mit seiner allerdings geschmacklichen Gratwanderung über die „Goldberg Variations“ macht (musste aus Platzgründen hier wegfallen. ja). Ich höre ganz verschiedene Stile, es fängt ganz harmlos an in einem alten Jazzidiom, dann entsteht eine dichte, komplexe Musik; und plötzlich – sauschwer – wird es ganz witzig, ein faszinierendes Spiel mit Stilen, unglaublich spannend und virtuos; die CD muss ich mir kaufen !


KARL AMADEUS HARTMANN:
„Concerto funebre“ für Solovioline und Streichorchester, 3 Satz (1939)
(„Funèbre“, rec. 1999. Münchner Kammerorchester, Leitg. Christoph Poppen, Isabelle Faust, Violine. ECM-CD.)

AH: Eine gute, sehr aggressive Interpretation und ein sehr rhythmisch betontes Stück, mit immer den gleichen, punktierten, aggressiven Rhythmen. Von Bartok gibt es kein Violinkonzert mit Streichorchester, von Strawinsky auch nicht; das Werk ist mir unbekannt, und es ist auch nicht meine Musik, so kontrapunktisch sie auch manchmal ist. Sie ist mir zu betont motorisch, noch im Banne neoklassischer Konzepte. Aber ausgezeichnet gespielt, sehr rasant und gut artikuliert; die Interpretation hat mir gefallen! (Nach Bekanntgabe:) Eigentlich kenne ich die Komposition, aber genau diesen 3. Satz habe ich irgendwie ausgeblendet. Die anderen drei Sätze habe ich in Erinnerung und auch den tiefen Ernst und die Dramatik, die in dieser antifaschistischen Musik von Hartmann zum Ausdruck kommen.


LUCAS NIGGLI & SYLVIE COURVOISIER: 
„Gate Lane“
(„Lavin“, rec. 1999. Lucas Niggli, dr, perc, Sylvie Courvoisier, p. Intakt-CD.)

AH: Ich bin erfreut, so viel tolle Musik hier heute zu hören und zu sehen, dass es immer noch radikale MusikerInnen gibt, die nicht regredieren. Das hier ist ein spannendes Stück, natürlich auch näher am Free Jazz als an Vorangegangenem, rhythmisch unheimlich reich, und wieder in der Bogenform, wie wir sie heute schon öfter gehört haben. Unglaublich dramatisch gespielt mit den Rhythmen und Einsatzabständen. Und hier wird  nun eine Technik angewandt, die noch viel älter ist als all das, was heute schon zur Sprache kam und wodurch eine mittelalterliche Perpektive hineinkommt. Ich meine den sogenannten Hoquetus oder „Schluckauf“, ein Prinzip des 14. Jahrhunderts in seiner ursprünglichen Bedeutung, also das Zerreissen oder Aufteilen von Rhythmen oder Motiven auf zwei oder mehrere Stimmen in kurzen Wechseln. Hier ist das aber wahrscheinlich improvisiert und nicht geschrieben, eine beeindruckend freie Musik, aber doch nicht so frei – sonst wäre es chaotisch –, sondern gesetzmässig, mit einem Anwachsen der Parameter im Sinne einer Verkomplizierung – polyrhythmisch, polymetrisch, was will man mehr. Und am Schluss hören wir wieder das Auseinandernehmen der Einsatzabstände, das Auseinanderrücken, kein melodisches Wiederholen mehr, sondern ein rhythmisches, ein Spiel mit Einsatzabständen, mit Hoqueten. Papst Johannes XXII (1316 – 34) hat solches Zerreissen der Melodie kritisiert und die Jungen, die so eine schnelle und nervöse Musik machen. Also auch das ist ein Topos der letzten 2‘500 Jahre: Man wirft den jungen Musikern und Komponisten immer wieder die Geschwindigkeit vor, den Bewegungsrausch. Hier kommt sozusagen noch der „Rhythmusrausch“ dazu, wunderbar!


ALBAN BERG:
„Sonata op. 1“ (1907)
(„Liszt, Berg, Busoni“, rec. 1982. Alfred Brendel, Klavier. Philips-Classics-LP.)

AH: Das ist Bergs Klaviersonate op. 1, ein ganz tolles Stück, wunderbare Musik ohne Frage, ein einsätziges Werk, das in einer grösseren Tradition steht, aber auch in der Tradition der Schönberg-Schule, geschrieben sowohl in der Sonatenhauptsatzform als auch mit Elementen der zyklischen Sonatenform. Ein meisterhaftes Werk, nicht sein erstes übrigens, obwohl er es als sein Opus 1 bezeichnete; zu den vorangegangenen Stücken wollte er nicht stehen. Ein genialer Wurf in einem frei atonalen Stil


BRAD MEHLDAU:
„Los Angeles“

(„Places“, rec. 2000. Brad Mehldau, p, Larry Grenadier, b, Jorge Rossy, dr. Warner Bros.-CD.)

AH: Nun, das ist eigentlich auch sehr im klassischen Sinne und auch hier fallen einem wieder Haydn und Konsorten ein. Am Anfang wird ein Motiv exponiert, das in seiner Ökonomie berühmten Motiven des 17. Jahrhunderts ähnelt, und es ist sehr schön , Johannes, dass du mir heute den Seufzer gleich in verschiedenen Varianten vorbringst („Seufzer, eine uralte Leidensfigur“, siehe Teil 1,  ja). Am Anfang ist es nämlich die Umkehrung des Seufzers, der am Schluss dann immer wieder kommt; und auf eine tolle Weise erscheint er auch bei den scheinbar „belanglosen“ Läufen immer wieder an prominenter Stelle. Später ist er wirklich extrahiert, nur noch Sekunde von oben, was man ganz oft hört, sehr versteckt und dann wieder deutlicher. Das alles wird mit klassischen kontrapunktischen Techniken bei der Motivarbeit entwickelt; es handelt sich also um ein Motiv und nicht um ein Thema, wobei man wissen muss, dass es viel schwieriger, aber auch spannender ist, nur mit einem Nichts von Motiv zu arbeiten als mit einem abgerundeten langen Thema. In gewissen Jazzstilen vor dem Freejazz läuft solche Musik manchmal ins Leere, und ich habe dann Mühe damit. Aber hier war ich frappiert, und es war spannend zu verfolgen, wie dieser Seufzer erscheint, immer wieder anders, so dass es nie langweilig wurde. Also auch hier die Bogenform, eine sehr differenzierte Musik, die einem viel Hörreiz bietet. Das wunderbare Zusammenspiel der Drei, die perfekte Polyphonie und Polyrhythmik erinnern mich etwas an Musik, die ich mit Schlagzeuger Jack DeJohnette gehört habe. Insgesamt, das muss ich doch sagen, fordert mich das hier nicht so heraus wie die Musik der grossen Zeit des Free Jazz mit Ornette Coleman und Mitstreitern. Coleman ist Musik für die berühmte Insel, die man immer wieder hören kann.


GYÖRGY KURTÁG:

„Quartetto per archi“, op.1 (1959)

(„Musik für Saiteninstrumente“, rec.1995, Satz 1-3, Keller Quartett, ECM-CD.)

AH: Auch wieder ein Streichquartett, spannende Musik, unglaublich viele Gesten, viele Ausdrucksbereiche, auch viele Satztechniken, seltsame Wechsel zwischen Zwölftönigem und Tonalem - Repetitives, ostinate Sachen, bohrende Rhythmen. Auch der Seufzer kommt vor, wie bei Schostakowitsch; eine Musik, die zwischen den Stilen und Jahrzehnten schwankt.   


            

 

CECIL TAYLOR:

„Dinesh“

(Ausschnitt, rec. live at 26. Jazz Festival Willisau 2000. Cecil Taylor, solo piano. SR DRS2, 5.1.2001.)

AH: Das ist ein Stück, das man  mehrmals hören müsste, um sicher zu sein, ob der erste Eindruck einer gewissen gestalterischen Monotonie wirklich zutrifft. Ich schaue hier jedenfalls noch nicht ganz durch. (Jetzt haben wir auch schon sehr lange Musik gehört, ungemein  komplexe zum Teil, und da muss man aufpassen, dass man nicht unaufmerksam und ungerecht wird.) Der Anfang des Ausschnitts hat mir eigentlich sehr gut gefallen – auch wieder eine Art Verdichtungsprozess. Er oder sie hält oft kurz inne, macht Zäsuren, was allerdings mit der Zeit etwas schablonenhaft wirkt. Diese Zäsuren sind jedoch nicht vorhersehbar, und das ist gut so. Was mir auch hier wieder gefällt, ist der Verzicht auf einen erkennbaren Takt. Es gibt nie einen Akzentstufentakt. Gegen Schluss bringt er dann allerdings ein ziemlich banales Motiv und macht Pausen, was wie angeklebt wirkt, als ob er sich nicht entscheiden kann, ob und wie er das Stück beenden soll. Das trägt etwas dazu bei, dass ich trotz des komplexen Niveaus bei diesem Stück am meisten Fragezeichen mache. Aber generell liebe ich einfach radikale Musik und bin in diesem neuen Jahrhundert nicht bereit, zu viel einfacheren Formen  zurückzugehen, denn wir haben ja heute einen so unglaublichen musikalischen Reichtum, was auch an diesem Nachmittag bei Dir wieder ohrenfällig wurde.


JA: Toni Haefeli, herzlichen Dank fürs erneute Mitmachen bei diesen Hörabenteuern.




© JAZZ 'N' MORE Nr. 2/2001 (Teil 2)
Fotos: © Peewee Windmüller



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