Johannes Anders
Musik - Journalist

LUCAS NIGGLI

Text von Johannes Anders


Lucas Niggli 1Lucas Niggli, 1968 in Kamerun geboren, heute in Uster lebend, machte Anfang der 90er Jahre vor allem mit dem homorvoll-witzigen, ideensprühenden Trio „Kieloor entartet“ von sich reden. Keine andere deutschschweizer Gruppe hat so intelligent, aber auch beeindruckend respektlos mit Bausteinen aus dem grossen Musikreservoir des Jazz, Rock und der E-Musik-Avantgarde gespielt und daraus in einem hinreissend unverfrorenen Katz-und-Maus-Spiel ein Kopf wie Bauch gleichermassen anregenden Stück neuer Musik kreiert. Eine klassische Schlagzeugausbildung, ein Studium bei Pierre Favre und eine grosse Offenheit sind Nigglis Basis, um sich auf verschiedenen Gebieten, vom Rock über Jazz bis zur zeitgenössischen E-Musik, überzeugend und grenzüberschreitend zu betätigen. Und so spielt er mit gleichem Vergnügen etwa in den Pierre-Favre-Gruppen „Singing Drums“ und „European Chamber Ensemble“, in „Roots of Communication“, in Duos mit Favre, Irène Schweizer und Sylvie Courvoisier, im Avant-Core-Trio „Steamboat Switzerland“, mit dem er beim kommenden Jazzfestival Schaffhausen eine spannende Auftragskompositionen uraufführen wird, und mit seinem neuen, aufregenden New-Jazz-Trio „ZOOM“ mit Nils Wogram (tb) und Philipp Schaufelberger (g), für das er soeben einen Projektbeitrag der Kulturstiftung Pro Helvetia zugesprochen erhielt.


K.A. HARTMANN:

6.Symphonie für grosses Orchester,
1953 (Anfang 2.Satz, DGG-LP/1956), RIAS-Symphonie-Orchester Berlin, Ferenc Fricsay.

LN: Ich stehe extrem auf derartiger Musik; habe sie vor allem während der Blütezeit von „Kieloor“ viel gehört. Liegt zwischen Strawinskys „Sacre“ und Bartoks „Wunderbarer Mandarin“, hat ähnliche Gestik. Die Dichte der Streicher, der Percussion, das extrem Bewegte, die klangliche Üppigkeit, das Atonale...


PIERRE FAVRE TRIO:

„Santana“

(„Santana“, PIP-LP, Eigenprod./rec.1968), Pierre Favre, Irène Schweizer, Peter Kowald.

Lucas niggli 2L.N.: Whow...,ein Pianotrio Ende der Sechziger, könnte das mit Irène und Pierre sein; habe zuerst Irène erkannt, die beiden aber noch nie so spielen hören: der Pierre so laut, mit harten, satten Sounds..., kenne ihn von seiner Freejazz-Periode nicht so gut, aber super, Wahnsinn, phantastisch. (Nach Bekanntgabe:) Das Aufnahmejahr ist mein Geburtsjahr.


STEVE REICH:

„Drumming“,

1970/71 (Anfang Part I, Nonesuch-LP/rec.1987), Steve Reich and Musicians.

LN: Das ist „Drumming“ von Steve Reich ! War für mich eine sehr wichtige Musik, habe sie früher oft gehört: Das motorische, minimalistische Spiel ist fürs Schlagzeug natürlich immer etwas Zentrales. Mir gefällt besonders, dass es ein Fell-Stück ist, also mit Trommeln...


IGOR STRAWINSKY:

„Le Sacre du Printemps“,1913/22/47

(„Danse Sacrale“, DECCA-CD/P.1974/1995), Chicago Symphony Orchestra, Sir Georg Solti.

LN.: Das ist es, „Sacre“, mein Lieblingsstück! Habe mir damals in der Zentralbibliothek die Partitur besorgt und mit einem richtigen Dirigierstab bei mir im WG-Zimmer bei voller Lautstärke mitdirigiert, alle Taktwechsel mitgemacht..., da kenne ich jede Note; ein extrem schweres Werk für alle Solisten. Damit hast du mir eine grosse Freude gemacht.


DANIEL HUMAIR:

„Surrounded 1964-1987“

(„Cesar“, Mediartis-Flat & Sharp, 2LP-Sampler mit verschiedensten Formation, 1987/rec.1985), Joachim Kühn, J.F.Jenny-Clark, D.Humair.

L.N.:Das sind Joachim Kühn, Jenny-Clark und Daniel, ein unbändiges, hochenergetisches Trio, eine phantastische Art von Interplay. Der Daniel spielt hier aber irgendwie ein total komisches Schlagzeug, mit untypischen Daniel-Sounds, das rechte Ride, das dünne Ping Ping...ist vielleicht die Aufnahme... Aber er ist der klassische Sideman, und in dieser Rolle voll emanzipiert!


PIERRE FAVRE / LEON FRANCIOLI / MICHEL PORTAL:

„Arrivederci Le Chouartse“

(Ausschnitt aus Seite D, hatHut- 2LP, 1 981/rec. Live 1980).

LN: Das ist doch wieder der Pierre! Aber wer sind die beiden anderen? Der Saxophonist, - ganz speziell. Es rollt, es rollt, es hat soviel Zeit, es ist so grossflächig..., gut, dass ich das endlich mal höre.


KARLHEINZ STOCKHAUSEN:

„Aus den sieben Tagen“,

1968 (Ausschnitt aus „Intensität“, DG-LP/rec.1969), u.a. mit Carlos Roqué Alsina, J.F.Jenny-Clark, Michel Portal, J.P. Drouet, Stockhausen und „Anonym“ (wahrsch. Vinko Globokar).

Lucas niggli 3LN:... der mit seiner Werkbank... (L.N. amüsiert sich total über die Geräusche, die Stockhausen mit Hammer und Nägeln, 4 Autohupen, Pfeifensirene, Schmirgelpapier, Raspel usw. beisteuert). Es ist unglaublich, das Langanhaltende, das Stampfen und Machen, die Dringlichkeit, aber auch das Klamaukartige, das da drin ist...; habe mir lange überlegt, ob das nicht aus der freien Szene kommt, aber mit Spielanweisungen eines zeitgenössischen Komponisten; allerdings sind da zuviele Ereignisse, die in ihrer Vehemenz nicht komponiert sein können..., vielleicht ein frühes Konzeptstück von Stockhausen. – Was ich an der freien Musik so schätze, ist die Möglichkeit, auf der Basis absoluter Instrumentbeherrschung zu erweiterten, unorthodoxen Spielweisen und Klangerzeugungen zu kommen, sich ein riesiges, neues Vokabular zuzulegen!


ART BLAKEY QUARTET:

„A Jazz Message“

(„Just Knock On My Door“, Impulse-CD 1999/rec.1963) mit McCoy Tyner, Sonny Stitt, Art Davis.

L.N.: Ist ein Drummer, der bescheiden im Hintergrund begleitet, das aber sehr konzentriert und pulsierend macht. Könnte der Blakey sein, auch auf Grund seines Back Beat; er hat das meisterhaft gemacht.


LOUIS ANDRIESSEN:

„De Staat“,

1973-76 (Ausschnitt aus Seite 1, Composers Voice-LP, Holland Festival, rec. live 1978), Netherland Wind Ensemble und div. Solisten, Lucas Vis, cond.

Lucas niggli 4LN: Das habe ich ganz besonders gern an dieser Musik, das ganz Dichte, das Bewegte, Läuferische, unglaublich, wie das perlt, sehr horizontale Musik, wie ein Solo von Charlie Parker für Orchester, es fliesst, es rast; sehr schwierig für das Orchester, die präzisen, rhythmisch virtuosen Unisono-Passagen...Der Komponist unserer Steamboat-Uraufführung in Schaffhausen ist ein Andriessen-Schüler.


STOCKHAUSEN:

„Trans“,1971 (Anfang, DG-LP/Donaueschinger Musiktage 1971, Uraufführung, live), Sinfonie-Orchester des Südwestfunks, Ernest Bour.

LN: Super-Sound, wahnsinnig, phantastisch dieses Geräusch (verstärktes Webstuhlgeräusch), und dann dieser liegende Cluster, extrem, habe gern so unbequeme Musik, ist so assoziativ: entweder einsteigen, mitempfinden, sich mitreissen lassen oder raus.


STEVE KUHN TRIO:

„Remembering Tomorrow“

(„Bittersweet Passages“, ECM-CD/rec.1995), mit David Finck, Joey Baron.

LN: Wer ist das, - ist das der Jack (DeJohnette)? Schlagzeug gefällt mir sehr gut, das energievolle, zupackende Spiel, geht manchmal ziemlich unzimperlich zur Sache; von der Intensität und Lautstärke her fast etwas zu erdrückend für ein Pianotrio.


FREDY STUDER, JIN HI KIM, JOËLLE LÉANDRE, DOROTHEA SCHÜRCH:

„Duos“

(„Duo 3“ mit D.Schürch, voc, For 4 Ears-CD 1999/rec.live 1996).

Lucas Niggli 5LN: (Reagiert sofort) Ist Doro Schürch !, und..., ah..., mit Fredy natürlich. Habe ihn nicht gleich erkannt, weil die Intro nicht so eindeutig war, aber jetzt, wo er im Schuss ist..., ganz typisch bei Fredy: Jeder Schlag sitzt, sein Spiel ist so klar, so präzis, er meint jeden Schlag. Ich könnte jede Note mitschreiben. Er setzt seine Ereignisse, macht nicht einfach „let the whole shit flow..“. Auch im freien Kontext ist er sehr bewusst, sehr artikuliert, eine grosse Stärke von ihm. Ist neben Pierre einer meiner wichtigsten Einflüsse.


FRITZ HAUSER:

„Solodrumming on time and space“

(Stück Nr.5, CD/rec. 1999, Distribut.Plainisphare).

LN: Etwas Ähnliches wie bei Fredy: das sehr Artikulierte sehr Präzise. Aber bei Fredy hat es noch eine „dreckige“ Komponente drin. Hier bei Fritz ist das ein Stück weit kristalliner, architektonischer, sehr geometrisch gebaut... Normalerweise exponiert er ein Stück viel langsamer, viel länger. Hier ist er verspielter, bewegter, variantenreicher. Eine sehr eigene Stimme !


THE TREYA QUARTET PLAYS GABRIEL FAURÉ :

(„Après Un Rêve“, Divox-CD/rec.1997), Trio-Stück mit Peter Waters (p), Tony Overwater (b), Gilber Paeffgen (dr).

LN: Ist das Keith Jarrett,... nein ? Aber phantastisch, extrem guter Pianist. Man könnte eigentlich sagen, was in der klassischen Musik das Streichquartett, ist im Jazz das Pianotrio.


SEBASTIAN GRAMSS UNDERKARL:

„20th Century Jazz Cover“

(„Broadway Blues“ von Ornette Coleman, TCB-CD 1996/rec. 1995), Quintett u.a. mit Nils Wogram (tb).

Lucas Niggli 6LN: So eine gute („huureguete“) Band !! Ist nicht nur witzig und manchmal auch krass und heavy, sondern auch sehr seriös.Unsere Generation kann mit dem schweren Erbe (Jazztradition) so umgehen; es tut der Musik gut, wenn man sie auch mal so respektlos behandelt. Schüttelbechereffekt mit homöopathischer Hochpotenz!. So bleibt die starke Essenz drin, nicht so wie beim Ton-für-Ton Nachspielen, das so bemühend ist. Ein schlechter Kopist, ein Epigone, tut dem Orginal mehr weh, als der, der versucht, es in unsere heutige Sprache zu transformieren.


L’INVISIBLE TRIO

(„Combat de fantòmes“, Altri Suoni-CD 1999/rec.1996), Jacques Siron (b), Jean-Jacques Pedretti (tb).

LN: Das ist Jean-Jacques Pedretti mit Jacques Siron. Der J.-J. ist jetzt das Gegenteil eines Fritz Hauser oder Fredy Studer. Das ist einer, der macht das Gestalten während die Spielens, der geht rein und schaut, kann ich schwimmen oder nicht, komme ich auf der anderen Seite an oder tauche ich ab; ich habe etwas zu sagen, weiss aber noch nicht, mit welchen Worten...Da ist extrem viel Wahres im Spiel. Ich habe viel mit ihm gespielt; und den Jacques Siron erkennt man natürlich, weil er sein Bassspiel mit vokalen Aktionen anreichert.


BILL DIXON WITH TONY OXLEY:

„Papyrus, Volume 1“

(„Palimpsest“, Soul Note-CD 1999/rec.1998), Bill Dixon (tp,p), Tony Oxley (dr,perc).

LN: Eine Art Zusamenspiel, wo nicht beide in die gleiche Bresche hauen: Der Schlagzeuger macht grossen Raum auf und der Duopartner hat allen Platz, um darüber zu fabulieren. Unglaubliche Qualität! Ähnliches versuche ich beim Zusammenspiel auch: Grosse Felder auftun, wo sich zwei Geschichten entwickeln können. Spannende Musik.


RACHEL Z – WOMAN TRIO
(Live-Aufnahme aus dem Moods, Zürich, rec. 17.4.1997), Rachel Z (p), Kim Clarke (e-b), Cindy Blackman (dr).

LN: Das könnte Tony Williams sein, das Unbändige, das ba-ba-ba-ba-ba mit den Toms. Ich habs gern, wenn der Drummer von hinten so feuert, dass man das Gefühl bekommt, jetzt kann er sich nicht mehr halten, jetzt brennt er durch. Ist hier eindeutig der Motor der Gruppe, ist sooooo gut ! Der Gestus dieses Stücks ist ganz ruhig, aber da kommt dieser unruhige Geist (der „Gischpel“) am Schlagzeug und macht das, was ich am Jazz so gern habe: das Treibende, die Energie, das Pulsieren....Und auch beim Drum-Solo: bleibt weiter auf Ride, Snare, Bass Drums, spielt mit gleicher Einstellung weiter, die Energie bleibt konstant oben, auch der Puls. Wer ist denn das ? (Nach Bekanntgabe: ...ist ja auch eine extreme Tony-Williams-Schülerin.)




 © JAZZ 'N' MORE Nr. 2/2002
Fotos: © Peewee Windmüller



zurück