Johannes Anders
Musik - Journalist

H I L D E G A R D  K L E E B

TEXT UND FOTOS: JOHANNES ANDERS

Hildegard KleebHildegard Kleeb, CH, Pianistin. Studien u.a. bei Eric Gaudibert, Genf und Jürg Wyttenbach, Basel. 1987-89 Pianistin der Hans Kresnik Tanzkompanie,  Heidelberg, D. 1990 visiting scholar an der Akademie für Bildende Kunst, Helsinki; Aufenthalt in London. 1992-95 Aufenthalt an der Wesleyan University, Connecticut. Uraufführungen u.a. von Peter Ablinger, Maria de Alvear, John Cage, Hauke Harder, Alvin Lucier, Christian Wolff. Zahlreiche CD-Einspielungen, u.a. "Anthony Braxton Klaviermusik 1968-88" auf Hat Hut Records, Basel. Über ihre CD-Einspielung „For Bunita Marcus“ von Morton Feldman erschien 2008 im französischen Verlag „le mot et le reste“ eine Meditation von Guillaume Belhomme. Zusammenarbeit u.a. mit Musikern wie Pelayo Arrizabalaga, Vincent Barras, Anthony Braxton, Jacques Demierre, Fritz Hauser, Carlo Mombelli, Dimitrios Polisoidis und Bildenden Künstlern und Tänzern wie Inge Dick, Stéphane Brunner, Philippe Deléglise, Dorothea Rust. Verheiratet mit dem Komponisten/Posaunisten Roland Dahinden, mit dem sie seit 25 Jahren im Duo spielt (neueste CD "Recall Pollock", 2012, Leo Records, London). 2 Töchter, Anna und Luisa Dahinden. 2013 CD Aufnahmen zusammen mit Roland Dahinden und Anthony Braxton in Middletown, CT / USA.

5 x ANTHONY BRAXTON (*1945):

1.) ANTHONY BRAXTON / GEORGE LEWIS DUO:
TEIL 1 - Ausschnitt (“Elements of surprise“, recorded live at Int. New Jazz Festival Moers 1976. A. Braxton, reeds, George Lewis, tb. LP-Moers Music).
2.) ANTHONY BRAXTON WITH MUHAL RICHARD ABRAMS:
CUT ONE - Ausschnitt (“Anthony Braxton Duets 1976“. Braxton, reeds, Abrams, p. LP-Arista):
3.) ANTHONY BRAXTON / CHICK COREA:
DUET (“Circle - Paris Concert“, rec. 1971. Braxton, reeds, Corea, p. [hier nicht dabei Dave Holland, b, Barry Altschul, dr]. 2LP-ECM).  
4.) ANTHONY BRAXTON / ROBERT SCHUMANN STRING QUARTET:
8KN - Ausschnitt (“ANTHONY BRAXTON / ROBERT SCHUMANN STRING QUARTET“, rec. 1979. LP-Sounds Aspects).
5.) MARIANNE SCHROEDER (*1949):
Hildegard KleebCOMPOSITION NO. 107 (“Braxton - Stockhausen“, rec. 1984. M. Schroeder, p, Braxton, reeds, Garrett List, tb. 2LP-hatART).
HK: Das war ein wunderbarer Ausflug in die siebziger Jahre und dieser Ausflug bewegt sich auf der Kante zwischen Improvisation und Komposition. Oft denkt man, es sei improvisiert, dann gibt es wieder Anhaltspunkte, dass es aufgeschrieben sein muss. Ich glaube, das gilt für alle fünf Beispiele, bei denen übrigens überall Braxton dabei ist. Bei 1.) hat mich die Technik sehr an Globokar erinnert. Bei 2.) habe ich an Stockhausen gedacht, denn Braxton war ja sehr von Stockhausen beeinflusst. Hier wird mit Patterns gearbeitet, wie sie später auch bei Feldman vorkommen, das Pianosolo ist aber voll improvisiert und nimmt Cecil Taylor vorweg. Auch bei 3.) habe ich an Stockhausen gedacht, klingt wie eine aufgeschriebene Improvisation. Bei 4.) dachte ich bezüglich der Architektur an Xenakis, sehr lebendig, mit kristallinen Formen und Linien wie eine Skulptur - und dann kommt Braxton dazu. 5.) ist die jüngste Komposition . Leider fällt mir der Name des Posaunisten nicht ein. Braxton hat ja viel mit ihm zusammengearbeitet. Am Klavier könnte Marianne Schroeder gewesen sein, die ja Braxton-Kompositionen eingespielt hat. JA: Gibt es zwischen den verschiedenen Aufnahmen, bzw. im Spiel Braxtons zwischen damals und heute, irgendwelche Unterschiede? HK: Was geblieben ist ist, dass sich die Stücke zwischen Improvisation und Komposition bewegen. Linien, bildende Kunst und Architektur spielen bei Braxton nach wie vor eine wichtige Rolle. Oft sind seine Titel ja Zeichnungen und Malereien und die Stücke, die wir kürzlich aufgenommen haben, basierten auf grafischen Partituren.         

LENNIE TRISTANO (1919-1978):
TURKISH MAMBO - Tristano (“Lennie Tristano“, rec. 1955. L. Tristano, p. LP-Atlantic).
HK: Der Komponist ist der Pianist, würde ich sagen, könnte 80-er Jahre sein, New York, ist klar Jazzsprache, aber beeinflusst unverkennbar von Steve Reich, seine “Piano Phase“ klingt an ... JA: … die allerdings erst 1967entstand, was für den Weitblick von Lennie Tristano spricht, der diese Aufnahme bereits 1955 machte.

PIERRE BOULEZ (*1925):
SONATE FÜR KLAVIER - 1947 (“Lucerne Festival Sommer 2010“. Maurizio Pollini, Piano. Privat-CD-DRS2).
HK: Diese Musik ist in einer ähnlichen Sprache geschrieben wie die ersten 5 Beispiele, es ist  allerdings keine Improvisation sondern eine Komposition. Zuerst dachte ich wieder an Braxton, aber Braxton ist freier, hier ist jedes Detail ausgeschrieben - Dynamik, Rhythmen -  ich habe an Stockhausen gedacht, aber Stockhausen ist vielleicht zu deutsch; das hier hat ein wärmeres Licht, lässt vielleicht an Berio denken …

GERI ALLEN TRIO (*1957):
RUNNING AS FAST AS YOU CAN - Allen (“The Printmakers“, rec. 1984. G. Allen, p, Anthony Cox, b, Andrew Cyrille, dr. LP-Minor Music).
HK: Musik voller Energie, lebendig, - beginnt mit einem wunderschönen Schlagzeugsolo, gefolgt von einem ebenso wunderbaren Dialog zwischen Bass und Schlagzeug, virtuos, schnell, nervös, Musik der Stadt. Dann setzt der Pianist ein, Cecil Taylor, wie ein Monolith, der dann die Dialoge nicht mehr braucht. JA: Der Pianist ist von deiner Favoritenliste; es ist die Pianistin Geri Allen mit ihrer ersten Aufnahme unter eigenen Namen von 1984, die allerdings nicht typisch ist für ihr späteres Spiel. 

Hildegard KleebGYÖRGY LIGETI (1923-2006):
ATMOSPHÈRES FÜR GROSSES ORCHESTER UND SCHLAGZEUG - 1961 (“Ligeti“, rec. 1966. Sinfonie-Orchester des Südwestfunks Baden-Baden, Leitung Ernest Bour. LP-Wergo).
HK: Ich würde diese Musik eine Klangfarbenoper nennen, in der das Orchester einen Lichtraum öffnet, einen Lichtraum, der aus verschiedenen Perspektiven des Lichts besteht, die sich verändern - Klangfarbenmelodien, Klangfarbenharmonien - eine Dramatik von Klangfarben, ein Gemälde aus Orchesterklängen. Für mich ist es fast wie eine Weiterführung von Puccinis Melodien auf dem Weg zur elektronischen Musik . Wunderschön.  

GEORGES APPERGHIS (*1945):
PIÈCE POUR JEUNES PIANISTES - 2004 (“Works for Piano“, rec. 2008. Nicolas Hodges, piano. CD-Neos).
HK: Auch diese Klaviermusik arbeitet ganz stark mit Klangfarben, es entstehen Klangakkorde, eine Komposition, die mit dem Ausklang arbeitet, den Ausklang immer wieder in neuen Perpektiven zeigt. Es gibt Motive, die bei Feldman vorkommen, Klanggewebe, eine Musik, die nicht dramatisch ist, die ganz abstrakt bleibt. 

DOMENICO SCARLATTI (1685-1757):
SONATE F-DUR, K 107 (“Great Pianists - Die grossen Pianisten des 20. Jahrhunderts“, P 2009. Alexis Weissenberg, piano. 2CD-Philips).
HK: Das ist eine Scarlatti-Sonate - wunderschön, wie das hin- und herpendelt zwischen Dur und Moll - das Licht von Neapel scheint auf, wo aber auch der Flamenco-Gitarrenklang aus Spanien aufscheint, wo schon fast das Arabische ein bisschen reinhört. Es ist alles enthalten, was es an Klangfarben auf dem Klavier gibt, weiter kann man nicht gehen. Natürlich ist Scarlatti auch wunderschön auf dem Cembalo - auf dem Klavier eigentlich ein  Anachronismus - aber das ist gerade das Wertvolle dieser Musik, dass das möglich ist, diese auf verschiedenen Instrumenten zu spielen.    

CECIL TAYLOR (*1929):
PIANO SOLO - Ausschnitt („Donaueschinger Musiktage 2004“. C. Taylor, p. Privat-CD SWR 2).
HK: Das beginnt mit einigen Farbpunkten, punktuelle Musik mit sehr viel Raum und Pausen - einige Farbkleckser hingeworfen, sehr visuell, man könnte daraus ein grafische Partitur erstellen. Es ist Cecil Taylor, der sich da sehr viel Zeit nimmt… Dann baut er seine Komposition auf, seine Improvisation, aber ich nenne sie Komposition, weil das so gesetzt ist. Mit seinen typischen Figuren und Motiven entwickelt er einen eigenen Sound, sehr physisch, mit sehr viel Kraft, gleichzeitig wirkt es wie hingeworfen, wie unterwegs sein.  

OLIVIER MESSIAEN (1908-1992):
QUATUOR POUR LA FIN DU TEMPS, 1940, Ausschnitt (“Lucerne Festival Sommer 2012”. Kolja Blacher, Violine, J. P. Maintz, Cello, A. Carbonare, Klarinette, K. Gerstein, Piano. CD-DRS2).
HK: Diese Komposition erklingt wie ein Lied und es schreitet fort wie ein Perpetuum Mobile mit immer wiederkehrenden Motiven, die aufsteigen und absteigen. Auch hier wunderschöne Klangfarben.

Hildegard KleebSTEPHAN WIRTH (*1975):
ETUDE NR. 5, 2004/2007 (“Der Komponist Stephan Wirth“, rec. 2007. S. Wirth, Piano. Privat-CD DRS 2).
HK: Natürlich sehr virtuos, Klanggewebe, schillernd, könnte fast eine zeitgenössische Etüde à la Liszt sein, klingt komponiert, obwohl es bestimmte Ähnlichkeiten mit Cecil Taylors Solo hat, allerdings auf der anderen Seite, auf einem anderen Kontinent.

MORTON FELDMAN (1926-1987):
PIANO PIECE TO PHILIP GUSTON, 1963 (“Piano - Morton Feldman - Marianne Schroeder”, rec. 1989. M. Schroeder, Piano. CD-hatART).
HK: Das ist auch eine Klangfarbenmelodie, ich würde es auch ein Lied nennen oder ein Landschaftsbild, ein Zustand, eine Schönheit im Sein, nicht eine Entwicklung sonders das Jetzt - könnte eine Erinnerung an Feldman sein.

JOHN COLTRANE (1926-1967):
JUPITER - Coltrane (”Jupiter Variation - The Mastery of John Coltrane”, rec. 1967. J. Coltrane, ts, Rashied Ali, dr. LP-Impulse).
HK: Eine energetische Musik, energetisch und sinnlich. Das Saxophon bewegt sich an der Grenze zum Schreien, zu Noise, sehr visuelle Bewegungsmotive, die sich entwickeln; mal scheint einen kurzen Moment ein Blues hindurch - eine sehr dichte Musik und doch lässt sie Raum, ist peaceful.

GYÖRGY LIGETI (1923-2006):
ÉTUDE NO. 14 - COLUMNA INFINITA, 1993 (“György Ligeti - Etudes”, rec. 2000. Toros Can, Piano. CD-L’empreinte digitale).
HK: Kommt mir irgendwie bekannt vor, auf alle Fälle ist das sehr repetitiv, Strawinsky ist der Vater, klingt wie eine Etüde von Ligeti.

Hildegard KleebFRANZ SCHUBERT (1797-1828):
1.) SONATE B-DUR, op. posthum, D 960: Scherzo (“Valery Afanassiev”, *1947, Gidon Kremer Edition Lockenhaus, Vol. 3, rec. 1985. V. Afanassiev, Piano. LP-ECM New Series).    
HK: Das war aus der Schubert-Sonate … - ich weiss jetzt nicht welche Nummer - es war das Menuett bzw. das Scherzo - das Scherzo hat sich ja aus dem Menuett entwickelt. Der erste Teil erscheint sehr klassisch, also gar nicht Schubert als Romantiker; im Trioteil kommt dann die Klangfarbe der Lieder zum Vorschein, so wie man Schubert kennt. Wunderschön gespielt, ohne romantische Geste, die Musik ganz zart mit feinen Strichen gezeichnet, eine Zeichnung einer Landschaft.
2.) SONATE in A major, D 959, Scherzo (”10 Years Lucerne Festival at the Piano 1998-2008”, Beispiel rec. 1976. Radu Lupo, *1947, Piano. 6CD-Box Julius Bär).  
HK: Auch wieder ein Schubert-Tanz, könnte auch ein Scherzo sein. Das Volkstümliche des Tanzes erklingt wunderschön, aber trotzdem behalten die Farbklänge hier schon eine Gewichtigkeit, also das sie wichtig sind als Klang per se, das Schubert-Klangklavier erklingt hier als Gemälde innerhalb dieses Menuetts. Fröhlichkeit und Verspieltheit stehen neben Akkorden, die ein nahendes Gewitter andeuten, das jederzeit ausbrechen könnte, aber nicht tut. JA: Liegt das an der Komposition oder am Pianisten ? HK: Das liegt an der Komposition, ist aber auch die Lebendigkeit, der Pianist freut sich an den grossen Kontrasten, er malt den Klang, das Schubert-Klavier erklingt hier als schillerndes Gemälde voller Farben.

GALINA USTVOLSKAJA (1919-2006):
Klaviersonate Nr. 6, 1988 (“Lucerne Festival im Sommer“ 2012. Christoph Keller, Piano. Privat-CD SRF 2 Kultur). 
HK: Das könnte man als rhythmische Cluster-Etüde bezeichnen, eine motorische, energievolle Musik, die Bewegung, die Maschine sind die wichtigen Elemente - das Klavier als Soundbox, Chaos-Musik. Die Musik der Futuristen kommt mir dabei in den Sinn, zum Beispiel die extreme Musik des “Balet mécanique“ von George Antheil, ich denke aber auch an Frederic Rzewski.

SIMON NABATOV, *1959, NILS WOGRAM, *1972:
NONCHALANT HINT (“NOWARA“, rec. 2009. Simon Nabatov, p, Nils Wogram, tb. CD-Leo Records).
HK: Das klingt am Anfang wie eine Unisono-Melodie, Unisono-Skulptur, sehr virtuos, ist europäischer Jazz … JA: Ja, der Pianist ist zwar ein Russe, lebt aber seit 1989 in Deutschland … HK: … und der Posaunist lebt in Zürich und ist der Nils. Es ist zeitgenösscher Jazz aus der Zeit, wo man klassische Technik und ein Hochschulstudium gemacht hat, mit Spielfreude und Freude an Virtuosität, auch der Virtuosität im Zusammenspiel, mit ganz anderer Energie als zum Bespiel John Coltrane.    

JOHANNES BRAHMS (1833-1897):
Symphony No. 1 in C minor, op. 68, 1876, 1. Satz, Un poco sostenuto - Allegro (”Brahms Symphony 1 Gardiner“, rec. 2007. Orchéstre RévolutionnaIre et Romantique, John Eliot Gardiner. CD-SDG Soli Deo Gloria).
JA: Diese Musik spiele ich dir vor, weil ich sie kürzlich in einer „Diskothek im Zwei“ von Radio SRF Kultur gehört habe, wo diese Aufnahme als beste beurteilt wurde und sie mir wie eine Art neuen Zugang zu Brahms geöffnet hat. HK: Für mich ist das ein ganz anderer Brahms, als wie ich ihn kenne; der Klang ist hier sehr wichtig, als ob Brahms ein Opernkomponist sein könnte, oder ein Brahms, der auch an Bruckner und Wagner erinnert.

Hildegard, herzlichen Dank für Deinen  Besuch.

© JAZZ 'N' MORE Nr. 2/2013, März/April 2013
Fotos © Johannes Anders

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