Johannes Anders
Musik - Journalist

M A R K  S A T T L E R

Text und Fotos: Johannes Anders

Mark Sattler1964 in Kassel geboren, verheiratet, 2 Kinder, lebt in München und Luzern. Nach dem Studium der Musikwissenschaft und Philosophie in Hamburg von 1992-1997 Produktionsassistent von Manfred Eicher bei ECM Records, München. Seit 1999 Dramaturg bei LUCERNE FESTIVAL, verantwortlich für zeitgenössische Musik, composer-in-residence und Musiktheater, in diesem Bereich auch dramaturgische Tätigkeit. In der Reihe composer-in-residence betreute er KomponistInnen wie zum Beispiel Frangis Ali-Sade, Giya Kancheli, György Kurtàg, Toshio Hosokawa, Elliott Carter, Hanspeter Kyburz, Pierre Boulez, Olga Neuwirth, Isabel Mundry, Heiner Goebbels, Harrison Birtwistle, Helmut Lachenmann, Matthias Pintscher, HK Gruber, Peter Eötvös, George Benjamin, Kaija Saariaho, Jürg Widmann, Dieter Ammann, Georg Friedrich Haas, Sofia Gubaidulina und Philippe Manoury. Weitere intensive Zusammenarbeit mit wichtigen Komponisten Neuer Musik wie Heinz Holliger, Klaus Huber, Wolfgang Rihm und Michael Werthmüller. Besonders engagiert im Vermittlungsreich: Workshops, Künstlergespräche, Konzerteinführungen und –moderationen sowie Publikationen über Contemporary Music.

ARNOLD SCHÖNBERG (1874-1951) / HEINZ HOLLIGER (*1939):
SECHS KLEINE KLAVIERSTÜCKE op. 19, 1911 („Collegium Novum Zürich“, rec. 2011. Bearbeitet für Kammerensemble von H. Holliger, Dirigent H. Holliger. Musiques Suisses-CD.)
MS: Das ist Schönberg, opus 19, die sechs Klavierstücke aus der berühmten Phase 1908 bis 1911, in der sich Schönberg wirklich von der Tonalität befreit hat. Was hier durchklingt, vom ersten Stück an und vor allem auch im letzten, ist diese harmonische Freiheit und in dieser Bearbeitung, die ich nicht kannte, kommt genau dieses Freie, dieses Atmen der Musik unglaublich schön raus. Wie da Klänge gelegt werden, kennt man eigentlich erst in der späten Musik des 20. Jahrhunderts. Schönberg ist da ein ganz grosser Wurf gelungen. Diese  Harmonien haben mich schon als Schüler begeistert, ich habe mich richtig daran besoffen und sie faszinieren mich noch heute. Über Schönberg könnte ich stundenlang reden, habe ja auch meine Magisterarbeit über ihn geschrieben. Wer hat denn das jetzt bearbeitet? Ja wirklich Heinz Holliger - das ist natürlich faszinierend.

Mark SattlerPAUL PLIMLEY TRIO (*1953):
TOTIUS QUOTIUS (“Hexentrio”, rec. 2012. P. Plimley, p, Barry Guy, b, Lucas Niggli, dr. Intakt-CD.)
MS: Ein frei spielendes Klaviertrio, extrem virtuos, auch seitens des Bassspielers. Frei spielende Klaviertrios haben natürlich eine lange Geschichte. Was mir aber aufgefallen ist und gut gefallen hat, dass der Klavierspieler eine sehr starke Akkordik als Akzente reingesetzt hat, dann aber wieder das freie Spiel in den hohen Lagen und ein gutes Interplay mit dem Bassisten, die sich zum Teil harmonische Sachen zugespielt haben… - waren auf jeden Fall Musiker, die nicht einfach frei drauflos spielen, sondern sehr konzeptionell denken und spielen.

LUIGI NONO (1924-1990):
VIII  INTERLUDIO 2º („Promoteo - Tragedia dell’ ascolto”, 1981/1985, rec. 2003. Solisten: 2 soprano, 2 alto, 1 tenor, 2 speakers, Solistenchor Freiburg, ensemble recherche, Solistensembles des Philharmonischen Orchesters Freiburg und des SWR Sinfonieorchesters, Experimentalstudio des SWR, André Richard, director. Peter Hirsch, 1st conductor, Kwamé Ryan, 2nd conductor. Col legno-2SACD.) 
MS: Tolle Musik, sehr faszinierend, aber ich komme im Augenblick nicht drauf, was es ist - da hast Du mich erwischt, was mich ärgert... JA: Vielleicht habe ich fürs sofort Erkennen zufälligerweise zwei ungünstige Ausschnitte gespielt, zumal die Komposition über zwei Stunden dauert…. MS: Das erste Beispiel hat sich nur in den tiefen Tönen und ganz langsam bewegt - sehr eindringlicher Klanganfang, wie bei Schönberg freie Tonalität, freie Harmonie; der zweite Ausschnitt ist bewegter, orchestraler, farbiger gesetzt, hat mir sehr gut gefallen, eine Textur, in der man sich an diesen Gesten und Einwürfen sehr gut orientieren kann - sehr aufregende Musik. Was war es? In diesen Ausschnitten waren natürlich typische Sachen nicht enthalten, kaum Elektronik und keine Sprachgeschichten, sonst hätte ich’s sicher erkannt, vor allem, weil Nono für  mich ein ganz wichtiger Komponist ist.

Mark SattlerGYÖRGY LIGETI (1923-2006):
ZWEIMAL STREICHQUARTET Nr. 2 (1968):
5. Satz Allegro con delicatezza
1.) ARDITTI QUARTET (Live bei den „Römerbad Musiktagen“ 1994. DRS 2, 1994.)
2.) ARTEMIS QUARTET („Ligeti - String Quartets 1 & 2“, rec. 1999. EMI Virgin Classic-CD.)
MS: Lange nicht mehr gehört, aber es ist Ligeti, 2. Streichquartett - faszinierende Musik. Was hier auffällt: es fängt an fast wie Minimal Music, dann gibt es Punktuelleres, dann was ganz Harmonisches, dann was Unisonohaftes - also auch hier Ligetis grosse Freiheit, sich von etwas inspirieren zu lassen, das aber in ganz eigene Sachen zu formen. Die erste, eine Live-Aufnahme, war vom Klanglichen natürlich nicht so toll, aber von der Virtuosität und Energie her spannender als die Studioaufnahme. Bei der ersten meine ich, meinen Freund Arditti gehört zu haben. Die haben das schon ganz früh auf einem hohen Niveau gespielt und spielen das immer noch und das Spezielle am Arditti Quartet ist, dass die das mit einer unglaublichen Musikalität beleben, ja mit etwas Zigeunerhaftem, was diese Musik braucht.

EVAN PARKER’S ELECTRO-ACOUSTIC ENSEMBLE + DUO FURT:
LIVE-AUSSCHNITT („Donaueschinger Musiktage 2003”. E. Parker (*1944), sax, Barry Guy, b, Paul Lytton, dr, live-electr., Duo Furt: Richard Barrett, Paul Obermayer,  live-electr. SWR 2, 2003.)
MS: Der Ausschnitt begann mit akustischen Instrumenten, ging dann über in ein elektronisches Setting, war wohl eher aus dem Jazzbereich - wobei mir hier zuerst das Evan Parker Elektric-Aucoustic Ensemble einfällt. Das Tolle hier ist diese Energie im freien Spiel der Instrumentalisten, die auf einem ganz adäquaten Niveau von den Elektronikern übernommen wird, was total faszinierend ist. Interessant wäre, wie das dann wieder in die instrumentale Ebene zurückgeht. Das Schwierige an dieser Musik ist, dass in diesem kurzen Beispiel bereits eine derartig gigantische Anzahl an Klängen entsteht, dass man vermuten könnte, dass irgendwann der Zauberkasten leer ist… JA: … was aber nicht eintrat, wie ich live in diesem 48 Minuten langen Stück erleben konnte. Übrigens: Das Duo FURT ist dieses Jahr wieder in Donaueschingen, aber allein.  

Mark SattlerTEODORO ANZELLOTTI (*1959)
VARIATIO 20 A 2 CLAV („Johann Sebastian Bach: The Goldberg Variations“, rec. 2009. T. Anzellotti, acc. Winter & Winter-CD.)
MS: Ist klar, ist Anzellotti mit einer Bearbeitung für Akkordeon von Bachs „Goldberg Variationen“ auf Winter & Winter, hatten wir letztes Jahr auch beim Festival. Ist eine der späteren, virtuosen Variationen und was so schön ist, ist erstens, dass Akkordeon das darstellen kann, zweitens, wie virtuos der Anzellotti das macht und drittens, dass da ein Atem dazukommt, den man sonst bei einer Cembalo- oder Klavierinterpretion nicht hat. Ich finde, allen Puristen zum Trotz, dass diese Musik so stark ist, dass sie eine derartige Verarbeitung sehr gut vertragen kann.  

DMITRI SHOSTAKOVICH (1906-1975) / KEITH JARRETT (*1945):
PRELUDE AND FUGUE NO. 2 IN A MINOR (“24 Preludes and Fugues op. 87”, rec. 1991. Keith Jarrett, piano. ECM New Series-CD.)
MS: Ein Präludium mit Fuge von Schostakowitsch, vom schönen Klavierklang her klang das sehr nach ECM und Keith Jarrett - ein sehr eindrucksvoller Zyklus, den Schostakowitsch da geschrieben hat in Anlehnung an die Präludien und Fugen von Bachs „Wohltemperiertem Klavier“. So weit ich mich erinnern kann, war es vor allem Jarrett, der diesen wunderbaren Zyklus wieder in Erinnerung gerufen bzw. eine Art Renaissance eingeleitet hat.  Es ist toll wie der Keith das gespielt hat.   

Mark SattlerCECIL TAYLOR (*1933):
LIVE-AUSSCHNITT („Donaueschinger Musiktage 2004”. C. Taylor, p-solo. SWR 2, 2004.)
MS: Wahnsinnig virtuoser Pianist; wenn Du sagst, das Stück dauert 35 Minuten, würde ich liebend gern wissen, wo der mich noch überall hinführt. Immer wieder tauchen Blueslicks und Monk-artige Themen auf, ist jemand, der bewusst nicht Standards spielt, der das nur ganz entfernt zitiert. Super, ein tolles Beispiel, wobei man sieht, wie klar und strukturiert die vermeintlich freien Spieler agieren, es irgendwann zu einer Komposition wird, obwohl es aus dem Moment geschaffen wird, ist wie ein Roman mit einer Erzähllinie, wo immer wieder ein neues Kapitel kommt.  

SOFIA GUBAIDULINA (*1931):
THE HOUR OF SOUL, 1974, for Orchestra, Solo Percussionist and Mezzo-Soprano (“III International Music Festival Leningrad 88”. Leningrad Philharmonic Orchestra, Timur Mynbajew, cond. Col legno-CD. Beim Lucerne Festival im Sommer 2012 ist sie „composer-in-resicence“.)
MS: Das scheint ein Konzert zu sein, wo das Schlagzeug eine wichtige Funktion hat - vor allem am Anfang sehr aufregend, weil vollkommen offen war, in welche Richtung das gehen würde und man nicht wusste, welche Orchesterklänge oder eventuell Improvisationen Richtung Jazz jetzt kommen würden; es wurde dann aber immer strukturierter und klarer und man hörte, dass es ein grosses Orchester war. JA: Ich sag jetzt mal, wers ist und wann komponiert… MS: …ist ein Stück, das ich nicht kannte. Aber man konnte schon hier sehr gut hören, wie frei und aufregend sie mit Klanglichkeit umgegangen ist; sie ist ja auch jemand der früher viel improvisiert hat. Um diese Zeit konnten ihre Kompositionen in der Sowjetunion jedoch nicht gespielt werden, es waren sozusagen Partituren für die Schublade. JA: Sie trat übrigens 1991 mit ihrem Improvisationsensemble „Astreja“ beim Internationalen Musikfestival Davos auf, dessen küsterischer Leiter Michael Haefliger war, dem heutigen Intendanten des Lucerne Festival.  

KARLHEINZ STOCKHAUSEN (1928-2007):
GRUPPEN FÜR 3 ORCHESTER, 1955-57, LIVE-AUSCHNITT („Lucerne Festival Sommer 2007“. Lucerne Festival Academy Orchestra, Jean Deroyer, Peter Eötvös, Pierre Boulez, Dirigenten. DRS2-CD.)
MS: Auch eine sehr starke, wunderschöne Musik mit sehr dichter Textur, aber unglaublich gut ausgehört, hat mir sehr gut gefallen, mit sehr schönen Übergängen auch in Kammermusikalisches - kann aber in diesem Komplex nicht genau identifizieren, was es war. JA: Es ist eine Aufnahme vom Lucerne Festival 2007, die von drei Dirigenten dirigiert wurde… MS: Ohne diesen Effekt von drei Orchestern hören zu können, die um einen herum placiert waren, ist ohne Surround Anlage ein Erkennen der Komposition „Gruppen“ von Stockhausen natürlich sehr erschwert. Kleiner Schweizer Bezug zu diesem epochalen Stück: Stockhausen hat mal die Partitur auch im Hinblick auf die Abbildung der Silhouetten Schweizer Berge  beschrieben.

Mark SattlerMILES DAVIS QUINTET (1926-1991):
FOOTPRINTS, W. Shorter („Miles Davis Quintet LIVE in Europe 1967“, Copenhagen Concert. M. Davis, tp, Wayne Shorter, ts, Ron Carter, b, Tony Williams, dr. Columbia Legacy-3CD/1 DVD-Box.)
MS: Das ist das Miles Davis Quintet mit Shorter, Hancock, Ron Carter und Tony Williams. Das Faszinierende dieser Aufnahme, einer Komposition von Waynes Shorter, ist, dass die Festigkeit der Studioaufnahme, z.B. auf „Miles Smiles“, noch mal wieder aufgelöst wird; allein wie der Hancock die Klavierbegleitung da reinbringt, ist was vom Grössten, was es in diesem Bereich freien Jazzspiels gibt, auch die Dynamik der Spieler, die den einzelnen Solisten in seiner Steigerung unterstützen … - eine ganz tolle Aufnahme. Hier kommt das Potential der Qualität diese fünf Musiker hoch, das nur in Liveaufnahmen in dieser magischen  Dichte abgerufen werden kann.  

PIERRE BOULEZ (*1925) / PIERRE-LAURENT AIMARD (*1957):
PREMIÈRE SONATE, 1946 („Pierre-Laurent Aimard spielt Klavierwerke von Pierre Boulez“, Lucerne Festival 2005. SR DRS.)
MS: Das gehört natürlich zur anspruchsvollsten und stärksten Klaviermusik, die es gibt. Das Spannende find ich immer, das es eine Musik ist, die auf einem Grat wandert, wo man denken könnte, es könnte total freie Musik sein. Aber es ist alles aufgeschrieben und in einer grossen Komplexität notiert. Wenn es nicht Stockhausen war, dann Boulez mit einer seiner ersten Klaviersonaten, beide in dieser Phase sehr schwer zu unterscheiden.  

HEINZ HOLLIGER (*1939):
VIOLINKONZERT, 1993-95, 4. Satz, 2002 (“Hommage  à Louis Soutter - für Thomas Zehetmair“, rec.2002. T. Zehetmair, Violine, SWR Sinfonieorchester, H. Holliger, Leitg. ECM    New Series-CD).
MS: Ein Geigenkonzert, das ich nicht kannte, wobei die Geige ganz spannend geklungen hat; toll, wie mit Verstimmungen gearbeitet, wie der strahlende Klang und die Virtuosität der Geige auf ganz subtile Art zurückgefahren wurde bis zum Abbrechen und Verstummen des Klangs, das hat mir sehr gut gefallen, auch das Ende, wo das Orchester in eine offene Klanglichkeit geführt wurde. MS: Müsste ich das kennen? JA: Ich sag nur, das ist der ominöse vierte Satz… MS: aaaaah, ok., dann ist es Heinz Holliger - grossartig, eines der ganz grossen Violinkonzerte. Holliger hat das Werk ja dem tragischen Leben des Schweizer  Malers und Geigers Louis Soutter gewidmet - eine hochexistentielle, berührende Musik und der Thomas Zehetmair spielt das so grandios… 

GUNTER SCHULLER - JAZZ ABSTRACTIONS:
VARIATIONS ON A THEME OF THELONIOUS MONK, CRISS CROSS, Gunter Schuller, *1925 (“Composed by Gunter Schuller & Jim Hall“, rec. 1960. Eric Dolphy, as, bcl, Ornette Coleman, as, Bill Evans, p, Jim Hall, g, Eddie Costa, vib, Scott LaFaro, b, a.o., & The Contemporay String Quartet. Atlantic-LP).
MS: Sagenhaft schönes Stück, ein Bebop-Tune, das von Musikern gespielt wird, die eigentlich schon weiter gehen wollen und das in ihren Soli schon zu erkennen geben; es ist spannend, eine Art Kammerorcherster mit Streichern, Bassklarinette, Altsaxophon, Vibraphon, Gitarre… vom Thema her habe ich ein bisschen Monk gehört. Der Bassklarinettenspieler war wohl Eric Dolphy und der tolle Altsaxophonist?… JA: … war Ornette Coleman… MS: … den ich eigentlich freier kenne - aber eine Wahnsinnsaufnahme. Die muss ich mir unbedingt besorgen.

HELMUT LACHENMANN (*1935):
DOUBLE GRIDO II für 48 Streicher, 3. Satz (“Lucerne Festival 2005“. Ensemble der Lucerne Festival Academy, Matthias Hermann, Leitg. Aufn. DRS2).
MS: Eine Festivalaufnahme von 2005. Das war auch ein ganz toller Komponist, dessen Spezialität ist, Bänder rückwärts laufen zu lassen, daran habe ich ihn erkannt. Es war Helmut Lachenmann mit „Grido“ in der Bearbeitung seines 3. Streichquartetts für Streichorchester. Lachenmann war ja damals “composer-in-residence“, eine der spannendsten und intensivsten Residencen; er war sehr lange vor Ort und hat mit den Streichern der Lucerne Festival Academy gearbeitet, wobei ihn das Engagement der Musiker berührte, die ihn akzeptiert, ja verehrt haben. Lachenmann hat ja in der Vergangenheit sehr viel Widerstände erlebt, schlechte Erfahrungen mit Orchestermusikern, die seine Musik nicht spielen wollten. “Grido“ basiert auf einer durchgehenden Linie, inspiriert von einer Tessiner Berglinie, ähnlich Stockhausens “Gruppen“.

Mark SattlerCRAIG TABORN (*1979):
SPIRIT HARD KNOCK, Taborn (“AVENGING ANGEL“, rec. 2010. C. Taborn, p. ECM-CD).
MS: Wenn es nicht Marilyn Crispell ist und Du sagst, dass das eine neue Aufahme ist, könnte das Craig Taborn sein, ein Superpianist in der Keith-Jarrett-Nachfolge, kann man fast sagen, hochvirtuos, hochstrukturiert, klanggenau, kann den Flügel sehr gut orchestrieren - ein Superpianist und eine Entdeckung. Die Aufnahme hat für meinen Geschmack irritierend viel Hall-Raum, obwohl ich den Hall, wie er bei ECM oft anzuteffen ist, sonst schätze.

ALBAN BERG (1885-1935):
VIOLIN CONCERTO, 1935, 2 Satz (“Berg - Rihm: Violinkonzerte“, rec. 1992. Anne-Sophie Mutter, Violine, Chicago Symphony Orchestre, James Levine, Leitg. DG-CD).
MS: Das ist der Anfang des 2. Satzes von Bergs berührendem Violinkonzert, eine Trauermusik mit dem Untertitel „Im Andenken eines Engels“, gewidmet Manon Gropius, der früh verstorbenen Tochter von Alma Mahler-Werfel. Das ist eine Musik wie bei den Schönberg-Klavierstücken, die ich ganz früh in meiner Schulzeit gehört habe und die mich seitdem nicht mehr losgelassen hat, die sich sozusagen in meine Haut eingebrannt hat und es ist immer wahnsinnig schön, das zu hören. Berg ist hier die Verbindung zwischen Zwölftontechnik und Harmonik so gelungen, dass man die Zwölftontechnik gar nicht mehr hört, sie aufgegangen ist in ganz wunderbare, auch harmonische Setzungen mit Dur-Moll-Tonalitäten - ein Stück, dass mich zur Neuen Musik gebracht hat. JA: … und zur Interpretation? MS: …ist auf jeden Fall eine moderne Aufnahme, das Orchester ist wahnsinnig nach vorne geholt, wobei die Geige in das Orchester eingebettet ist, was sehr interessant ist, weil die ganzen Orchesterfeinheiten so sehr gut zu hören sind. Ich vermute, auf der Geige ist es jemand Jüngeres, in jedem Fall Hut ab, eine sehr gute Aufnahme.

HEINER GOEBBELS (*1952):
STIFTERS DINGE, Goebbels, drei Ausschnitte (”… is a compostion for five mechanical pianos, water, wind, fog, rain, metal, stones, ice and a text by Adalbert Stifter“, rec. 2007. ECM New Series-CD).
MS: Ich glaube ich weiss, was das ist… JA: …ich spiele noch einen zweiten Ausschnitt…. MS: …das ist Bach, der 2. Satz aus dem Italienischen Konzert… JA: … und hier der dritte Ausschnitt. MS: ok,  das ist eigentlich ein Theaterstück von Heiner Goebbels und zwar „Stifters Dinge“. Ich habe es in München gesehen, für mich eines der faszinierendsten Theatererlebnisse, ein Stück, das ohne Menschen auskommt, quasi ein Bühnenbild, in dem mit Musik, Texten und Licht gearbeitet wird, mit einer riesigen Apparatur aus verschiedenen ineinandergeschachtelten Klavieren, wo die verfremdeten Klänge rauskommen. Beim Anhören der Tonspur-CD hatte ich im Augenblick das Gefühl, ich vermissse das Theatererlebnis…

FRITZ HAUSER (*1953):
TIC TAC (“Solodrumming“, rec. 1985. F. Hauser, perc. hatART-CD).
MS: Das ist Fritz Hauser mit einer vermutlich früheren Aufnahme. Was hier sehr schön zu hören war, ist die gewisse Strenge, die der Fritz hat. Er ist ein unglaublich disziplinierter und auch sehr streng bauender, kalkulierender Musiker und wenn man das aber hört, wie bei jeder Kunst, die streng gemacht ist  - z.B. auch seine neuen „Schraffur“-Arbeiten - ist das Ergebnis etwas vom Aufregendsten, Freiesten, ins Offene führende, das ich kenne. 

Mark SattlerGITARRISTEN:
1.) WES MONTGOMERY (1923-1968): STARLIGHT (“Live  at Jorgies and More“, rec.1961.. VGM-LP).
2.) ELLA FITZGERALD (1917-1996) & JOE PASS (1929-1994): YOU’RE BLASÉ (“Take Love Easy“, rec. 1973. E. Fitzgerald, voc, Joe Pass, g. Pablo-LP).
3.) EGBERTO GISMONTI (*1947) & RALPH TOWNER (*1940): PALCIO DE PINTURAS (”Sol Do Meio Dia”, rec. 1977. E.Gismonti, 8 string guitar, R. Towner, 12 string guitar. ECM-LP).
4.) FLO STOFFNER (*1975): P.H.S. (“… AND SORRY“, rec. 2011. F. Stoffner, guitars. Veto-CD).
JA: Im Vorgespräch sagtest Du, dass Dich früher besonders Gitarristen interessierten. Hier sind einige Bespiele. MS: Mit dieser Präsentation machst Du mir eine ganz grosse Freude, weil die Gitarre eigentlich mein Lieblingsinstrument is. Das erste war Wes Montgomery, nicht ganz leicht zu erkennen, weil Du im Solo eingeblendet hast. Aber anhand der Phrasierung und Melodie und auch am Anschlag mit dem Daumen - er spielt ja nicht mit Plektrum - konnte man sofort erkennen, dass er das war. Dann kam eine Musik, bei der ich sofort Gänsehaut bekommen habe: es war die grosse Ella Fitzgerald, begleitet von Joe Pass, der die Sängerin begleitet wie Bill Evans auf dem Klavier, das heisst, er hat alle harmonischen Möglichkeiten, macht Bass, Harmonie und Solo in einem…, ist etwas vom Feinsten der Jazzgitarre, das ich kenne. Dann kam eine Musik, die bei mir ganz wunderbare heimatliche Gefühle aufkommen liess, mit zwei Gitarristen, die ich auch sehr schätze, grosse Individualisten, die auf mich einen grossen Einfluss ausübten: Ralph Towner und Egberto Gismonti. Das Interessante war, als ich begann Gitarrenunterricht zu nehmen, hatte ich einen Lehrer, der die ganzen tollen Stücke von Gismonti und Towner so für Gitarre transkribiert, dass er sie mit seinen Schülern spielen konnte, wobei ich gelernt habe, zu improvisieren und die Gitarre anders zu benutzen, als ich es von der klassischen Gitarre gewohnt war. So habe ich auch meine ersten ECM-Platten kennengelernt und der grosse Zufall war es dann, bei dieser Firma arbeiten und diese grossen Gitarristen persönlich kennenlernen zu können. Zum Schluss kam ein Gitarrist, der ganz geräuschhaft begann - vom Klang dachte ich zuerst an Fred Frith - dann gings aber in eine eher konventionellere Spielrichtung, mit rockigem Ansatz - kenne ich nicht, hat mir gut gefallen, war was ganz Neues, von dem man mehr hören müsste, sehr offener Typ. 

DON PULLEN (1941-1995):
ONCE UPON A TIME, Pullen (“ New Beginnings”, rec. 1988. D. Pullen piano solo. Blue Note-CD).
MS: Das war ein Wahnsinnspianist, irre virtuos, auch mit seiner Glissandotechnik. Das Spannende war hier, dass die Form ein Jazz Waltz war, die wie der Rhythmus und die Harmonien das ganze Stück präsent waren, der Pianist sich aber in seinem Solo in immer freiere Gefilde entfernte, ohne dass er das Stück zerstörte. Wer wars? Don Pullen habe ich mehrmals mit  George Adams erlebt, er spielte öfter auch mit Charles Mingus - ein toller Musiker, den ich sehr schätze. 

ELINA DUNI (*1981):
KAVAL SVIRI, trad. Bulgaria (“Lume, Lume - Elina Duni Quartet“, rec., 2009. E. Duni, voc, Colin Vallon, p. Bänz Oester, b, Norbert Pfammatter, dr. meta-CD).
MS: Ganz, ganz toller Anfang, unglaubliche Stimme, modales, traditionelles Stück und die Sängerin trifft diese Mikrotonalitäten und Skalen, die in dieser vorderorientalischen bzw. balkanischen Musik typisch sind, in einer unwahrscheinlich spannenden Weise. Phänomenal auch, wie es dem Klavier gelingt, das man ja nicht mikrotonal spielen kann, mit harmonischen Verschmutzungen das ganz überzeugend aufzugreifen. Hat mich sehr beeindruckt, eine starke Aufnahme. Der zweite Teil, wo es in eine Uptempo-Nummer geht, steht für mich in keinem Zusammenhang mit dem ersten Teil, machte auf mich einen konventionellen Eindruck, der mich etwas aus der Anfangsatmosphäre rausbrachte, trotz des eindrücklichen Pianosolos. Insgesamt ist mir die Aufnahme etwas zu dick geraten, das heisst, die Begleitinstrumente waren mir nicht transparent genug - einen Art von Musik, bei der ich dann manchmal die Hörlust verliere. Ich bin jemand, der jeweils aufmerksam zuhören möchte, der dann aber auch beschenkt und belohnt werden möchte. JA: Ich empfinde diesen Idiomwechsel gerade interessant, denn es geht den MusikerInnen ja nicht nur um das reine sich Bewegen in einer Musikkultur, sondern um das kreative Gegenüberstellen und Verbinden der beiden Welten balkanische bzw. albanische Musik und Modern Jazz. MS: Was ist das für eine Plattenfirma? Musst es mir nicht sagen aber man merkt beim Sound sofort, der Eicher würde aus einer derartigen Musik ein ganzes anders Klangbild herausholen; wir sind ein bisschen verwöhnt von deinen vorangehenden guten Musikbeispielen. Aber wie gesagt, der Anfang ist sensationell und eine grosse Sängerin.  

Mark, herzlichen Dank für Deinen Besuch.

© JAZZ 'N' MORE Nr. 5+6/2012, Sept./Oktober + Nov./Dezember 2012
Fotos © Johannes Anders

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