Johannes Anders
Musik - Journalist

BETTINA BOLLER

Text und Fotos von Johannes Anders

Bettina Boller 1 

Ihre Ausbildung absolvierte sie bei Ulrich Lehmann in Bern (Solistendiplom mit Auszeichnung). Weitere Studien bei Masao Kawasaki und Itzhak Perlman in New York. Sie konzertierte bisher als Solistin und Kammermusikerin in den meisten europäischen Ländern und in den USA (u.a. am Centennial der Carnegie Hall NYC). Europäischen und amerikanischen Fernsehzuschauern ist sie zudem als Solistin in preisgekrönten Musikvisualisierungen des Regisseurs Adrian Marthaler bekannt. Seit zwei Jahren moderiert sie die wöchentlichen Kultursendungen Sternstunde Religion, Philosophie und Kunst des Schweizer Fernsehens. CD-Einspielungen u.a. mit Violinkonzerten der Schweizer Komponisten Jean Balissat, Othmar Schoeck, Hermann Suter und Wladimir Vogel. Sie ist Mitglied des Solistenensemble Collegium Novum Zürich (zeitgenössische Musik), sowie Konzertmeisterin im Orchestre Philharmonique Suisse / ORPHIS; beide Orchester konzertieren übrigens beim kommenden Lucerne Festival „Verführung“. Ob klassische Musik, Jazz, freie Improvisation oder Werke der leichten Muse: für Bettina Boller ist Musik Sprache, der sie sich kompromisslos hingibt und der sie am liebsten live Ausdruck verleiht. Als "totales, unmittelbares Erlebnis für Zuhörer, stets zwingend das Spiel, ob nun virtuos, leidenschaftlich, draufgängerisch, verinnerlicht oder sakral", war einmal über sie zu lesen.


JOHANN SEBASTIAN BACH:

CHACONNE aus der Partita Nr.2, d-moll, für Violine solo, BWV 1004 (Otto Büchner mit dem Rundbogen. Aufn. 50er Jahre. Auszüge. CALIG-LP). 

BB: Diese Chaconne interessiert mich natürlich besonders, weil ich sie im Moment wieder studiere. Hier ist mir aber völlig schleierhaft, wie das gespielt wurde, wahrscheinlich mit einer Art Rundbogen..., habe das auch schon probiert. Eigentlich ist es aber ein Ding der Unmöglichkeit, mit einem Bogen diese vierstimmigen Akkorde zu spielen, aber eine hochgradig faszinierende Idee... Was dabei jedoch leider nicht möglich ist, und das stört mich, dass man mit diesem Rundbogen nicht schwungvoll und dynamisch spielen kann. Aber es hat eine ganz eigene Faszination.


VIOLIN SUMMIT BASEL 1966:

PENTUPHOUSE (Stephane Grappelli, 1. Solo, u. Jean-Luc Ponty, viol., Kenny Drew, p, N.-H. Orsted Pedersen, b, Alex Riel, dr, rec. 30.9.66, Fauteuil Basel, SWF + Schweiz. Radio. Hier nicht mitspielend Svend Asmussen u. Stuff Smith). 

BB: Bei Jazzgeigern kenne ich mich nicht aus, aber den Grappelli kenne ich von Aufnahmen mit Django Reinhardt, wobei es der Reinhardt ist, dessen Soli mich regelrecht entführen..... Grappelli ist sehr gesittet, mit sauberem, schneidendem Ton, aber weniger phantasievoll als der zweite Geiger. Der kümmert sich im Gegensatz zum ersten nicht um den Klang, ist ein sogenanntes „Wildschwein“; ich finde ihn aber spannender, auch wie er den Ton „knetet“...


ABDOU DAGHER ENSEMBLE:

MUSIK DER WELT IN BASEL 2001 (Konzertauszug, Abdou Dagher, Violine. SR DRS2 30.6.02).

BB: Sie bringen mich da in Welten, die ich noch nie gehört habe. Wo kommt denn diese Musik her? JA: ...aus Ägypten und der 65-jährige Geiger ist in Kairo eine bekannte Musikerpersönlichkeit. BB: Toll, phantastisch dieser Geiger, hat eine tolle Tiefe... Aber ich kann diese Musik nicht lesen; sie ist für mich Ornament und nicht Geschichtenerzählen; sie ist nicht meine Welt, aber ich finde sie ganz einfach schön...


VIKTORIA MULLOVA:

WALK BETWEEN THE RAINDROPS* / ROBOT 415 („Through the looking glass“, V. Mulova, viol.,  + Julian Joseph, p*, rec. 1999. Philips-CD).

BB: ... ist jemand, der über eine sehr gute (klassische) Geigentechnik verfügt, ist aber mit Sicherheit nicht improvisiert, denn es sind alle geigerischen Schwierigkeitsgrade drin, die sehr gut gemeistert sind. (Nach Bekanntgabe:) Sie ist eine hervorragende Geigerin, die mir vor allem gefällt, wenn sie Musik des 20. Jahrhunderts spielt...  


ALBAN BERG: VIOLINKONZERT 1935:

2. Satz Allegro (Auszug)

1.) ANNE-SOPHIE MUTTER, Chicago Symphony Orchestra, James Levine, rec. 1992. DG-CD.

2.) THOMAS ZEHETMAIR, Philharmonia Orchestra, Heinz Holliger, rec.1991. Teldec-CD.

Bettina Boller 2BB: Dürfte ich noch in den Anfang reinhören...(nach den ersten Tönen:) Aha, alles klar. Es ist schwierig bei diesem grossen Orchesterapparat, die Sologeige immer gut zu hören; es ist ja eines der Geheimnsse dieses Konzerts, dass es wirklich ein Konzertieren mit dem Orchester ist, wo eine grosse Verschmelzung, aber auch fast ein Kampf mit der Geigenstimme stattfindet. Was ich bei Konzerten generell immer wieder bedaure ist, dass die Geigenstimme im Orchesterklang oft untergeht. Bei Aufnahmen kann man diesen Umstand verbessern, aber auch nicht allzu sehr, denn sonst hört man das nachträgliche Anheben...Vom Geigenspiel gefällt mir die erste Version eigentlich besser, weil die einzelnen Gefühlslagen besser herausgearbeitet werden, vom Orchester her eher die zweite. Beide Interpretationen sind mir jedoch zu clean. Wenn ich mir die Partitur erarbeiten würde, würde ich sprödere, zerbrechlichere Klänge suchen... Aber beide Beispiele sind hervorragend gegeigt. (Nach Bekanntgabe): Müsste ich eine Auswahl treffen, wie bei der „Diskothek im Zwei“, ich würde mich für die erste Version entscheiden, auch weil ich Levine als Dirigenten wahnsinnig gern habe...


K. A. HARTMANN: CONCERTO FUNEBRE 1939

Für Solo-Violine und Streichorchester, 3. Satz Allegro di molto

1.)  THOMAS ZEHETMAIR, Deutsche Kammerphilharmonie, T. Zehetmair & Leitg., rec. 1991. Teldec-CD.

2.)  ISABELLE FAUST, Münchner Kammerorchester, Christoph Poppen, rec. 1999. ECM-CD.

BB: Das ist das „Concerto funebre“...; vor fünf Jahren habe ich das mal mit dem Zürcher Kammerorchester unter Griffiths gespielt. (Nach den ersten Takten von Beispiel 2:) Vom Orchester her gefällt mir das schon besser, auch die Geige. Mein Zugang zu diesem Werk ist die zum Ausdruck kommende Auflehnung gegen Tod, Schmerz, Resignation, die auf exemplarisch gute Weise vertont ist. Die erste Aufnahme ist mir zu gefällig, zu gesittet, zu musikantisch auch. Die zweite hat mehr Kraft, Energie, Biss..., aber auch die könnte für mich noch schärfer sein, noch mehr Messer-zwischen-den-Zähnen. (Nach Bekanntgabe:) Ja was, die erste ist mit Zehetmair, das kann ich fast nicht glauben; aber vielleicht liegt es auch daran, dass er hier auch dirigiert, denn die Kammerphilharmonie, die viel Wert auf Präzision legt, kenne ich sehr gut, weil ich da mal dabei war. Isabelle Faust ist eine tolle Geigerin und auch das Münchner Kammerorchester unter Poppen ist hervorragend. 


G - STRINGS:

BLOODSUCKING LEECHES („Made on strings“, rec. 1998. EMI-Scala-CD).

BB: Das stimmt jetzt für mich auch total! Super, und wie die zusammen sind.... Bei dieser Art Musikmachen könnte ich süchtig werden... JA: Vier der fünf Spieler sind Mitglieder des NDR-Sinfonieorchesters. BB: Das gibt’s ja nicht, - toll, die müssen sich zweigleisig ausgebildet haben..., phantastisch!


1. BARRY GUY LONDON JAZZ COMPOSERS‘ ORCHESTRA:

SECTION NR. 1 („Theoria“, Auszüge, rec. 1991. Orch. & Irène Schweizer, p. INTAKT-CD).

2. MAYA HOMBERGER & BARRY GUY:

FOUR SONGS - SONG 3 („Ceremony“, rec. 1997. M. Homberger, viol., B. Guy, double-bass. ECM-CD).

BB: (Zu 1.:) Was die Mulova vorhin Aufnotiertes gespielt hat, das ist hier am Piano wirklich improvisiert und diesen Unterschied merkt man eben, auch in Bezug auf die Lebendigkeit. Und da möchte ich alle klassischen Studenten bitten, sich ein Stück von dieser Lebendigkeit, Unmittelbarkeit und Energie abzuschneiden! (Zu 2.) Ist das Barry Guy und Maya Homberger? JA: ...und das vorher war Barry Guy mit dem London Jazz Composers Orchestra und Irène Schweizer als Solistin. BB: Barry Guy war für mich in letzter Zeit das Verrückteste, das mir zu Ohren gekommen ist. Wir hatten ja alle zusammen - Paul Giger war mit seiner Partnerin auch mit dabei - kürzlich ein Konzert in Murten. Der Mann ist mit seinem Instrument eine unglaubliche Einheit und wenn er spielt, ist das wie ein Dämonentanz, lebensfroh, vital, gesund... Und was mich noch fasziniert, ist, wie die beiden zusammenarbeiten - ein symbiotisches Duo. Barry Guy wird im Oktober in Boswil einen vielversprechenden Improvisationskurs geben...


ZBIGNIEW SEIFERT:  

AIR POWER* , ZAL ** („We’ll Remember Zbiggy“: Z. Seifert, viol., mit Philip Catherine, g, rec. 1977*. Z.S., mit Richie Beirach, p, rec. 1976**. Moods-Records-LP).

BB: Das ist mir jetzt z.B. zu floskelhaft, da könnte ich die Tonleitern alle locker aufschreiben. Es mag ein wichtiger Musiker sein, aber es ist für mich nicht sehr interessant, wenn ich das Strickmuster vorausahne. Es sind simple Skalen, die mich schnell einmal langweilen. Beim zweiten Stück bringt zum Beispiel der Pianist etwas Melancholisches in die Musik, das der Geiger nicht aufnimmt; der geigt einfach...Mit diesem wunderbaren Pianisten würde sogar ich anfangen, zu improvisieren.


GIDON KREMER:

EUGÈNE YSAŸE - SONATE NR.1 G-MOLL, 2. SATZ („Die 6 Sonaten für Violine solo“, rec. 1976. Eurodisk-Melodia-LP).

BB: Phantastisch gegeigt, aus einer Ysaÿe-Solosonate... Ist das Gidon Kremer in jüngeren Jahren..., denn in jüngster Zeit wirkte er ziemlich ausgepowert - zuviel Konzerte-geben, Herumreisen, immer allein unterwegs sein – ein hartes Leben. Mit seiner Kremerata Baltica hat er sich jedoch inzwischen eine Art Familie geschaffen...


KEITH JARRETT / GARY PEACOCK / PAUL MOTIAN:

BYE BYE BLACKBIRD („At The Deer Head Inn“, rec. 1992. ECM-CD).

BB: Das ist für mich wieder einer, der süchtig macht, der Dynamik reinbringt. Man sieht ihn geradezu vor sich, wie er mit Lust bei der Sache ist. Mir gefällt, wie er an den Tönen „klebt“ und gleichzeitig mit unglaublichem Drive nach vorne stösst..., ein einfaches Thema, aber genial gespielt.


DOMINIQUE PIFARÉLY / FRANÇOIS COUTURIER:

LABYRINTHUS („Poros“, rec. 1997. D.Pifarély, viol, F. Couturier, p. ECM-CD).

BB: Super!!! Ein Wahnsinnsstück..., also wirklich toll. Der Geiger hat keine Hemmungen, sich auch unkonventionell zu verhalten; das ist unmittelbarer Ausdruck - spannend!


HERBERT HENCK:

GEORGE ANTHEIL: SONATA SAUVAGE („Piano Music:  Conlin Nancarrow - George Antheil“, rec. 1999. H. Henck, p. ECM-CD).

BB: Das ist grandios und übersteigt fast die Möglichkeiten meines Fassungsvermögens, wie man so etwas spielen kann..., diese Rhythmenschichtungen und jede Stimme so gut geführt..., grossartig!


MAT MANERI:

IRON MAN („Trinity“, rec. 1999. Mat Maneri, violin, viola. ECM-CD).

BB: Das gefällt mir überhaupt nicht, aber es fasziniert mich, weil er als Geiger nicht bluffen will, auch nicht mich als Geigerin, und weil es dermassen eigenwillig ist, ohne Anbiederung, ohne Rücksicht auf Geschmackliches und Publikumserwartungen..., autistisch bis zum Geht-nicht-mehr. Ob es einem nun gefällt oder nicht, aber ein derartiger Musiker bereichert die Welt. 


JOHN ABERCROMBIE:

CONVOLUTION („Cat ‚n‘ Mouse“, rec. 2000. J.Abercrombie, g, Mark Feldman, viol, M. Johnson, b, Joey Baron, dr. ECM-CD).

BB: Kann ich noch weitere Beispiele hören... Bei der Geige ist immer wieder ein beliebiges Zusammenhängen einzelner Effekte aus der Trickkiste zu hören. Ich liebe eigentlich Trickkisten, wenn dabei nicht geblufft wird. Diese publikumswirksamen Tricks sind aber ganz einfach herzustellen und ich sehe als Geigerin geradezu, wie er das macht und das zieht mich irgendwie nicht rein. Nach diesen Auszügen würde mich interessieren, ob diese Person - vermutlich ein bekannter Jazzer - auch eine zusammenhängende Phrase oder Ähnliches spielen kann. JA: Das kann er ganz sicher, aber da müssten wir in diverse andere CDs reinhören, beispielsweise ins Duo mit seiner Partnerin am Piano, Sylvie Courvoisier...  


DIDIER LOCKWOOD:

COUSIN WILLIAM („New York Rendez-Vous“, rec. 1995. D. Lockwood, viol, D. Liebman, sax, Mike Stern, g, Dave Kikoski, p, Dave Holland, b, Peter Erskine, dr. JMS-CD).

BB: Phantastisch aufgenommen, man fühlt sich wie inmitten der Musiker. Ein spezieller Geigenton - und mit einer Attacke wie ein Blasinstrument. Das fasziniert mich jetzt grandios - sagenhaft..., und phantastische Begleiter. Und der Geiger hat überhaupt nichts Floskelhaftes. Und dieser Sound haut mich um: Das ist mein Geiger im Jazzbereich und mit Richie Beirach ein weiteres Jazz-High-Light dieses Nachmittags!


SHANKAR:

RAGAM TANAM PALLAVI („Pancha Nadai Pallavi“, Auszug, rec. 1989. Shankar, Double Violin, Zakir Hussain, Tabla, u.a., rec. 1989. ECM-CD).

BB: ...eine enorm „entstellte“ Geige mit irritierenden Tonlagen... JA: eine speziell gebaute Doppelvioline... BB:... aber eine faszinierende Sache, irrsinnig, phantastisch - und die schönen Bögen und wie mit einem ins Unendliche gehenden Zeitgefühl mit den Rhythmuselementen umgegangen wird...


Bettina Boller, ganz herzlichen Dank, dass Sie nach Nürensdorf gekommen sind.




 © JAZZ 'N' MORE NR. 4/2002
Fotos © Johannes Anders



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