Von Johannes Anders
Max E. Keller, geboren 1947 in Aarau, studierte Musikwissenschaft, Germanistik und Geschichte sowie Komposition bei H.U. Lehmann, H. Lachenmann, N.A. Huber und Th. Kessler und war Stipendiat der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWF. Er war einer der ersten Freejazzmusiker der Schweiz und hatte bereits 1967 am Zürcher Jazzfestival einen Aufsehen erregenden Freejazz-Auftritt. Bis 1973 mit verschiedenen Gruppen Konzerte und Rundfunkaufnahmen in der Schweiz, in Deutschland, Belgien, Polen, Tschechoslowakei. Max E. Keller hat über 90 Werke verschiedenster Besetzung geschrieben. Seit 1980 tritt er wieder als improvisierender Musiker auf, so an den Zürcher Junifestwochen, in Berlin, in Südamerika. Oft sucht er die Verbindung mit anderen Kunstformen wie Tanz, Theater oder mit Texten. Seine Kompositionen sind in ganz Europa, Australien, Nord- und Südamerika, in Russland, Korea, Mongolei und Aserbaidschan aufgeführt und vom Rundfunk aufgenommen worden. Drei CDs sind ausschliesslich seinen Werken gewidmet. Sein abendfüllendes Projekt "Improvisation und Komposition" wurde Anfang 2000 in neun Konzerten in Deutschland, Holland und in der Schweiz präsentiert und von DRS 2 aufgenommen. Seit 1985 Programmierung von Jazz und Neuer Musik im Theater am Gleis Winterthur. 1985 Schweizer Vertreter an der Biennale Berlin, 1991 an den Weltmusiktagen der IGNM in Zürich und 1993 in Mexico. 1997 Kunstpreis der Carl-Heinrich-Ernst-Stiftung Winterthur; 1999 Berlin-Stipendium und 2001 und 2003 Projektbeiträge des Aargauer Kuratoriums. (Max E. Keller, p, electr, wird übrigens zusammen mit Alfred Zimmerlin, vc, Stefan Wyler, tp, und Dani Schaffner, dr, am 30 März in der Zürcher WIM zu hören sein.)
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„Max. E. Kellers Lieblingssatz lautet: <Das Publikum lehnt die Neue Musik nicht deshalb ab, weil es sie nicht versteht, sondern, weil es sie versteht>, und ein spitzbübisches Lächeln huscht bei diesem Adorno-Zitat über sein Gesicht: Das Publikum will in der Musik nichts von den unharmonischen Zuständen der Welt wissen, es will sich entspannen. Damit ist eigentlich schon alles über diesen überaus produktiven Komponisten, improvisierenden Musiker und Organisator aussergewöhnlicher zeitgenössischer Konzertreihen gesagt. Der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, war schon immer schwierig, ihr zuzuhören offenbar auch. Gerade dazu lädt uns aber Max. E. Keller immer wieder ein“, meint der Pianist, Konzertveranstalter und Rechtsanwalt Roger Girod.
LENNIE TRISTANO (1919-1978):
INTUITION („Classics in Jazz“, rec. 1949, L.Tristano, p, Lee Konitz, as, Warne Marsh, ts, Billy Bauer, g, Arnold Fishkin, b, Denzil Best, dr. Capitol- 45EP).
MEK: Eine markante Musik, führt aus dem Bebop heraus in freie Gefilde, schönes Interplay der Instrumente … JA.: Diese Aufnahme gilt als erstes frei improvisiertes Stück der Jazzgeschichte, als Aufbruch in die freie Tonalität.
JOHN COLTRANE (1926-1967):
ASCENSION („Ascension“, Part 1, Auszug, rec.1965, J.Coltrane, A. Shepp, Ph. Sanders, ts, Fr. Hubbard, Dewey Johnson, tp, J. Tchicai, M. Brown, as, Art Davis, J. Garrison, b, McCoy Tyner, p, Elvin Jones, dr. Impulse-LP).
MEK: Das ist sicher Coltrane mit seinem Standard-Quartett mit McCoy Tyner und Elvin Jones und einer Reihe weiterer Musiker, darunter Pharoah Sanders … Das waren damals Aufsehen erregende, neue Dimensionen der Form, der Länge und der Anzahl improvisierender Musiker. Neu waren auch die Kollektivimprovisationen, die geballte Ladung von Musik und Energie. Erstaunlich, wie das, was damals vor zirka 40 Jahren als Chaos empfunden wurde, heute abgeklärt wirkt.
LUDWIG VAN BEETHOVEN (1770-1827) / ARTURO BENEDETTI MICHELANGELI (1920-1959):
PIANO SONATA IN C-MAJOR, OP.2, NO.3, 3. Satz (“… plays Beethoven, Chopin, Ravel”, rec. 1976, A. B. Michelangeli, p. Appassionato-CD).
MEK: Hier wird fugato-artige Technik verwendet, aber einfacher als bei Bach. Wenn das Beethoven sein sollte, ist das sehr untypisch für ihn; sehr swingendes Spiel mit starken Akzentuierungen, was nicht ganz dem klassischen Spielideal entspricht, weshalb man fast meinen könnte, hier spiele ein hervorragender Jazzpianist.
ANTHONY BRAXTON QUARTET (*1945):
COMPOSITION 110A (“Birmingham 1985”, Auszug, A. Braxton, reeds, Marilyn Crispell, p, Mark Dresser, b, Gerry Hemingway, dr. LEO-2CD).
MEK: Ein sehr eigenständiger Saxophonist, mit eigentümlich hohem Klang, der also Sopransaxophon oder vielleicht sogar Sopranino spielt. Im fixierten Thema, in den Staccati, den Haltetönen und langen Girlanden, in denen er sich manchmal verliert …, immer ist er ein intensiver Bläser, auch in den Dialogen mit dem zuerst im Hintergrund spielenden Klavier, das dann aber zu einer gleichwertigen Stimme wird und in ein schönes Interplay von Sax, Klavier und Schlagzeug mündet.
KARLHEINZ STOCKHAUSEN (*1928):
KOMMUNION („Aus den sieben Tagen“, rec. 1969, Auszug, J.-Fr. Jenny-Clark, b, Michel Portal, sax, fl, p, C. R. Alsina, hammond, J.-P- Drouet, perc, Anonym (Vinko Globokar), tb, u.a., K. Stockhausen, Stimme, KW-Empfänger, Glas, Steine, Filter, Regler, Klangregie, Deutsche Grammophon-LP).
MEK: Das dürfte Globokar sein, mit Portal, Alsina und Drouet, seinen Kollegen vom Quartett New Phonic Art … JA: Es läuft aber unter Stockhausen … MEK: Die Stimme, die es bei New Phonic Art nicht gibt, hat mich tatsächlich etwas irritiert. Dann sind das die freien Kollektivimprovisationen „Aus den sieben Tagen“. JA: Und warum steht für Globokar „Anonym“? MEK: Globokar und auch Portal waren damals nicht immer mit Stockhausens Klangregie einverstanden, der bei Konzerten ihr Spiel willkürlich veränderte und auch nicht damit, dass das alles unter seinem Namen lief, obwohl es sich ja um kollektive Improvisationen handelte, allerdings nach Spielanweisungen von Stockhausen – klanglich aber sehr schön gemacht mit dem gleichzeitigen Einsatz improvisierender Instrumente und Elektronik.
FRANZ SCHUBERT (1797-1828):
SONATE B-DUR, OP. POSTHUM („Edition Lockenhaus Vol.3“, Auszug 4. Satz, Allegro ma non troppo, rec. 1985, Valery Afanassiev, p. ECM-LP).
MEK: Schubert, B-Dur-Sonate, letzter Satz. Das Aussergewöhnliche dieser Sonate sind neben der Länge die Brechungen und das Stillstehen, die Kontraste, die harmonische Kühnheit, die Abgründigkeit, was vor allem im ersten Satz zur Geltung kommt. Der Gegensatz im Schlusssatz-Thema wird meines Erachtens vom Pianisten aber zuwenig stark herausarbeitet, wie überhaupt vieles etwas eingeebnet wirkt, eine Art altes Schubert-Bild ...
JIMMY GIUFFRE 3 (*1921):
WHIRR („Emphasis, Stuttgart 1961“, J. Giuffre, cl, Paul Bley, p, Steve Swallow, b. hatART-CD).
MEK: Klingt wie etwas Neueres aus Europa, jedenfalls steckt europäische Ästhetik dahinter, vor allem vom starken Formgefühl her. Obwohl die Musik ja weitgehend frei gespielt ist, ist sie doch sehr stark in einzelne Abschnitte gegliedert, die je ein klares Gesicht haben, von der Struktur her, aber auch vom Einsatz der Instrumente her. Klar führend die Klarinette. Das Ganze ist mir aber fast etwas zu gegliedert, es fehlt mir der Zug, der Bogen …
LUIGI NONO (1924-1990):
COME UNA OLA DE FUERZA Y LUZ, 1971/72 (“Luigi Nono”, Auszug, rec. ca. 1973, Symph. Orch. d. Bayer. Rundf., Claudio Abbado, M. Pollini, p. Deutsche Grammophon-LP).
MEK: Eine Komposition von Nono, „Come una ola …“, eine Art Widmung an den verstorbenen chilenischen Revolutionär Luciano Cruz. Der Beginn mit grossen, ruhigen, noch nicht klar identifizierbaren, fast Ligeti-artigen Klangflächen. Dann aber die ganz typische Art, mit der weiblichen Stimme umzugehen, wodurch ganz klar wurde, dass das Nono ist …
PETER BRÖTZMANN* – WALTER PERKINS (*1941):
BOOT THE BASTARDS OUT („the ink is gone“, Auszug, rec. 2002, P. Brötzmann, reed, W. Perkins, dr. Brö3-Eremit-LP).
MEK: Bei aller Wildheit auch eine sehr formbewusste Angelegenheit – diese kurzen Saxophonbrocken, die sich zu endlosen Linien zusammenfügen, die sich am Ende wieder in diese Brocken auflösen, aber auch die Dialoge mit dem weitgehend nur auf Trommeln spielenden Schlagzeuger. Das könnte Brötzmann sein, eine ältere Aufnahme, weil er heute nicht mehr so gut spielt … JA: Die Aufnahme stammt von 2002! MEK: Dann habe ich ihn vor einigen Jahren in Basel und Berlin in schlechter Form gehört.
SIMON NABATOV / NILS WOGRAM (*1959 / *1972):
AS WE DON’T KNOW (“As we don’t know it”, rec. 1998, S. Nabatov, p, N. Wogram, tb. Konnex-CD).
MEK: Ein sehr humorvolles, sehr virtuoses Duo, das sich mit allerhand Anspielungen wunderbar leicht quer durch die Jazzgeschichte spielt. Ich habe kürzlich in Berlin mit Posaunist Johannes Bauer gespielt, das hier ist aber viel lockerer …
ANTON WEBERN (1883-1945):
STRING QUARTET / 1905 (“Bach / Webern – Ricercar”, Auszug, rec. 2001, Münchner Kammerorchester, cond. and orchestrated by Christoph Poppen. ECM-CD).
MEK: Eine reine Streicherbesetzung, Spätromantik, am Übergang, wo die Tonalität an die Grenze geführt wird – starke harmonische Wechsel, rhythmische Dinge … Vom Gestus, von der teilweise schnellen Entwicklung der musikalischen Gedanken und den harmonischen Wechseln her, könnte das aus dem Umkreis des frühen Schönberg sein.
TIM BERNE (*1954):
JALAPEÑO DIPLOMACY („science friction live“, Auszug, rec. 2003, T. Berne, as, Marc Ducret, g, Craig Taborn, Rhodes, laptop, virtual org, Tom Rainey, dr. Thirsty Ear-CD).
MEK: Ein ganz spezieller Tutti-Klang – mit E-Gitarre, E-Piano, Altosax …, ein stetig Kreisendes, das auch während des Saxsolos weiterläuft …; der lange thematische Teil hat mir auch sehr gefallen. JA: Es ist Tim Berne und wurde am 12. April 2003 live in Winterthur aufgenommen … MEK: Eine sehr interessante Sache, ich war aber nicht dabei.
PIERRE-LAURENT AIMARD (*1957) AKA PYGMIES:
YANGISSA / LIGETI - EDUDE NO. 8 („Ligeti – Reich – African Rhythms“, rec. 2001/2, P.L.Aimard, p. Teldec Classics / Warner – CD).
MEK: Das Gemeinsame dieser Aufnahmen ist das repetitive Element; beim ersten vokalen Stück wirkt das quasi statisch, obwohl es Überlagerungen und Verschiebungen der Stimmen gibt, während es beim Klavierstück sozusagen wandernde repetitive Figuren gibt, sowohl im schellen wie im langsamen Teil. Beim ersten Stück denkt man an genuine Volksmusik aus Afrika, die einen jedoch nicht durch Gleichförmigkeit in Trance versetzt, sondern die durch die Komplexität der Stimmen, Rhythmen und Verschiebungen volle Aufmerksamkeit verlangt. Das Klavierstück fordert vom Pianisten höchstes Können, es ist wahnsinnig schwer zu spielen. Kommen die zwei Stücke auf der CD direkt hintereinander? JA: Ja; György Ligeti wollte mit seinen Etüden und Bezugnahmen die Verwandtschaft zwischen den alten polyphonen und polyrhythmischen afrikanischen Gesängen und Trommelriten und neuer europäischer, zeitgenössischer Musik unterstreichen und machte seinen Freund Aimard auf diese aufregenden Zusammenhänge aufmerksam.
CECIL TAYLOR (*1929):
CALLING IT THE 9th (“The Eight”, Auszug, re. 1981, C. Taylor, p, Jimmy Lyons, as, William Parker, b, Rashid Bakr, dr. hatART-2CD).
MEK: Das ist der Cecil! – vermutlich mit seinem klassischen Quartett mit Jimmy Lyons. Aus einem einfachen rhythmischen Motiv in den Bässen baut er das Ganze auf – das ist schon faszinierend; überhaupt ist spannend, wie er aufbauen kann. Und das Interessante ist weiter, das er nicht einen Saxophonisten genommen hat, der seine Musik ähnlich konstruiert wie er, sondern der spontan reinkommt und was ganz anderes macht. Die treffen sich dann auf einer ganz anderen Ebene, wobei der Taylor dann auch einiges hinter sich lässt. Aber es bleibt immer eine Basis, er spielt also nicht irgendetwas, wie man vielleicht denken würde.
ENNO POPPE (*1969):
RAD FÜR ZWEI KEYBOARDS (Donaueschinger Musiktage 2003, Auszug, Benjamin Kobler, Ernst Surberg, keyb. Aufn. von SWR2-Sendung).
MEK: Eine sehr raffinierte Anwendung, den Klavierklang elektronisch zu variieren und zu verändern – ein ganz bewusster, sehr weitgehender Einsatz der Elektronik, mit vielen Abstufungen im Ablauf der elektronischen Umformungen, klingt zum Teil jazzig und wie improvisiert. JA: Eigentlich müsste man jetzt detailliert beschreiben, wie der Komponist Enno Poppe hier mit Elektronik, Mikrointervallen, Skalen, Klangverformungen, Überlagerungen, Vielstimmigkeiten gearbeitet hat, was hier aber den Rahmen sprengen würde. Im letzten JAZZ ’N’ MORE (Nr.6/2003, Seite 11, Donaueschingen-Bericht) habe ich das versucht. MEK: Den Enno Poppe kenne ich von Berlin her, er leitet dort das Ensemble Mosaik.
EVAN PARKER’S ELECTRO - ACOUSTIC ENSEMBLE (*1944):
SET FOR LYNN MARGULIS (Donaueschinger Musiktage 2003, Auszug, E.Parker, sax, Barry Guy, b, Paul Lytton, perc, live electr. & Electro - Acoustic Ensemble. Aufn. von SWR2-Sendung).
MEK: Zuerst einmal ist das klanglich ausserordentlich faszinierend, mit der Zeit allerdings etwas langfädig, jedenfalls, was diesen Auszug betrifft. JA: Dieser Eindruck mag deshalb entstehen, weil ich einen Ausschnitt gewählt habe, den ich vor Beginn des langen, akustischen Zirkularatmungssolos des Saxophonisten eingeblendet und kurz nach Ende dieses Solos wieder ausblendet habe, es sich also nur um ein Teilstück aus einem rund einstündigen Ganzen handelt. Dazu muss noch gesagt werden, dass hier ein akustisches Trio spielt und im Mittelpunkt steht, dessen Musik jedoch komplexweise von 6 Laptop-Live-Elektronikern auf vielfältige Weise elektronisch erweitert, verfremdet, vielfältig überlagert, geschichtet und fliessend metamorphosiert wird. MEK: Ja, der lange elektronische Einstieg und Übergang nach dem Saxsolo …, auch das ist eine sehr spannende Sache.
Max, ganz herzlichen Dank, dass Du nach Nürensdorf gekommen bist.
© JAZZ 'N' MORE Nr. 1-2 / 2004
Foto: © Peewee Windmüller