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Sich öffnen oder verschliessen

Demierre und die Folgen

 

Das komplexe Hörwerk "Travelling Miles" des avancierten Genfer Komponisten, Pianisten und Avantgardekünstlers Jacques Demierre stiess beim Publikum des Schaffhauser Jazzfestivals weitgehend auf Unverständnis , ja Ablehnung; diskutiert wurde kaum.

 

Die Reaktionen auf dieses spannende, 53-minutige Hörstück für 11 improvisierende MusikerInnen verschiedener Provenienz sowie Elektronik und Zuspielband lösten bereits während der Aufführung bei im Publikum anwesenden prominenten, bisher als Free-Impro-Cracks und Free-Music-Apologeten bekannten MusikerInnen und "Experten" überraschend Missfallenskundgebungen und das Konzert störende Kommentare aus, ja ein St.Galler Journalist entblödete sich nicht, am Ende mehrmals Buh zu rufen. Von sklavisch ab Noten spielenden Interpreten, von undifferenzierten Klanganeinanderreihungen, von Chaos, Gleichförmigkeit, ja Nonsense und entstehender Langeweile war die Rede und in einem Festivalbericht des Tages-Anzeiger las man sogar von einer "mit beiden Händen greifbaren Angst der Musiker, auch nur einen entfernt konventionell klingenden Ton zu setzen", was "etwas Zwanghaftes, fast Panisches" gehabt hätte.

Partitur ohne Noten

Was viele dieser diesmal scheinbar mit musikalischen Scheuklappen ausgerüsteten, unflexiblen "Kritiker" und (Nicht-)Zuhörer überhaupt nicht begriffen hatten, war, dass Demierres Partitur keinerlei Noten enthielt, also von"sklavisch ab Noten spielenden Interpreten" nicht die Rede sein konnte. Stattdessen enthielten die Blätter für jeden Musiker präzise, sekundengenaue "On-Off"-Anweisungen, wann er improvisieren und sich, auf den Ablauf reagierend, in den musikalischen Fluss einschalten sollte. In diesen Zeitrastern und Parametern hatten die Spieler völlige musikalische und dynamische Freiheiten. Trotz der Konzentration auf diese Anweisungen und das mitlaufende Band – mit Field-Aufnahmen einer New Yorker Demonstration gegen die US-Invasion in den Irak mit über einer halben Million Teilnehmern, aber auch mit ganz leisen Soundereignissen von den einsamen, unzivilisierten Höhen bolivianischer Anden, sowie Sequenzen aus einem Hörspiel, das Demierre anlässlich eines Festivals für die AMR (Association pour l'encouragement de la  musique improvisée à Geneève) gespielt hatte – "agierten wir alle höchst entspannt und improvisierten so frei und aufmerksam im Gefüge dieses grossen Klangkörpers, wie man sich das nur wünschen kann", so ein bekannter Schweizer Mitspieler.

"Schlau gebaute" Spielanweisungen

Diese Vorgaben waren also von Demierre "so schlau gebaut", dass sie als eine "Art conduction funktionierten, die die freien Improvisationen des Ensembles so strukturierte und zu einer Komposition bündelte, die, wenn man die musikalischen Parameter vorgegeben hätte, nur mit riesigem Probenaufwand hätte realisieren werden können", so der Mitspieler weiter. Diese genialen Spielanweisungen waren sicher neben dem grossen Können und der musikalischen Sensibilität und Flexibilität der SpielerInnen der Grund dafür, dass das Werk trotz der grossen improvisatorischen Freiräume so präzis und wie voll notiert wirkte. – Den Meckerern sei im übrigen empfohlen, sich über die Tellerränder des Jazz und der üblichen Free Music hinaus vielleicht mal, unter dem Gesichtspunkt weiter geöffneter Ohren und Sinne, vermehrt mit aktuellen Tendenzen und Werken der sogenannter Neuen Musik oder zeitgenössischen E-Musik zu beschäftigen. Schon Strawinskys Jahrhundertklassiker "Le sacre du printemps" von 1913 wäre dafür ein guter Einstieg. Johannes Anders

© JAZZ 'N' MORE" 4/2005