Johannes Anders
Musik - Journalist

Glanzvoller Festivalauftakt

38. Solothurner Filmtage 

Von Johannes Anders 

Pane per tutti

Die Eröffnungsansprache von Bundesrat Moritz Leuenberger und der anschliessende, neue Stummfilm „Pane per tutti ...“, zu dem ein prominent besetztes, italienisch-schweizerisches Live-Jazz-Quintett spielte, u.a. mit Gianluigi Trovesi und Lucilla Galeazzi, vermittelten einen glanzvollen Festivalauftakt.

Solothurner FilmtageEs war das erste Mal, dass ein Bundesrat das wichtigste Präsentationsfenster des Schweizer Films eröffnete, mit einer launigen wie engagierten, auf die gegenwärtige Weltsituation eingehenden Rede. Weiter wurden die regionale und die internationale Eröffnungsfeier erstmals als eine Veranstaltung durchgeführt und ebenfalls erstmals gab es zu diesem Anlass einen neuen abendfüllenden Stummfilm mit speziell dazu komponiertem Live-Jazz. Der 76 Minuten lange Film wurde allerdings nicht von einem ausgesprochenen Filmemacher oder einer Filmemacherin konzipert, sondern von zwei bekannten Schweizer Jazzmusikern, dem Badener Pianisten und Komponisten Christoph Baumann und seinem langjährigen musikalischen Partner, dem Genfer Bassisten/Komponisten Jacques Siron, der auch für den Videoschnitt verantwortlich zeichnete. Der vom Instituto Svizzero di Roma und seinem Leiter Dieter Bachmann produzierte Film mit dem speziellen Titel „Pane per tutti – una ballata per Roma“ – den Titel entdeckte Bachmann in einer Römer Bäckerei  – ist ein in dreissig  verschieden langen Kapiteln gestaltetes Bildepos ungewöhnlicher Blickwinkel, Einblicke, Strassenszenen, architektonischer Bildfragmente und Skulpturausschnitte, faszierend fotografiert und eingefangen vom Schweizer Meisterkameramann Pio Corradi.

Kreative Kameraarbeit

Solothurner FilmtageCorradi, einer der weit über die Landesgrenzen hinaus bekannten Kameramänner und der vielleicht derzeit bedeutendste Schweizer Filmbildgestalter überhaupt, wurde ja bei diesen Filmtagen (endlich!) mit einer speziellen Retrospektive besonders geehrt. Wunderbar, ja spannend, mit wieviel Sensibilität und formgestaltendem Feeling er für diesen Film überaschende, ungewohnte, neue Bilder der offenen Stadt Rom entdeckte und mit ganz eigener Sehweise und Bildgestaltung eingefangen und festgehalten hat, von alten, antiken Architekturfragmenten und seltenen Detailtansichten bis zu urbanen Szenen lebendiger „italianità“ auf Strassen, in Läden, Räumen und Fenstern. Dazu die genau wie intuitiv komponierte, aber auch improvisierte Musik der beiden Filmautoren und Jazzer Christoph Baumann und Jacques Siron, die immer wieder mit den Bildern und den scharf beobachteten Details und Sujets in eine Art Dialog tritt, die mit den Bildebenen zu korrespondieren scheint oder wie eine Art Resonanzkörper wirkt. Da gibt es aber auch eine Bildsequenz mit Handy-telefonierenden Köpfen, zu der Siron ein witziges Gedicht oraler Vokal-, Laut- und Geräuschereignisse improvisierte, oder eine Schnittfolge mit verkehrsregelnden Polizisten, deren elegante Hand- und Armbewegungen wie choreographisiert wirkten, mit der entsprechenden musikalischen Ergänzung. Oder der grossartige Gianluigi Trovesi schnattert mit wilden Klarinettenimprovisationen zu einer ausdrucksstarken Reihe bewegter Bilder mit gestikulierenden Händen.

Eine Entdeckung: Lucilla Galeazzi

Im Quintett der beiden alten Kumpane agierte noch ein weiterer alter Mitstreiter, der Zürcher Drummer Dieter Ulrich, den man wie Trovesi nicht mehr speziell vorzustellen braucht. Last but not least und vielleicht für viele die musikalische Überraschung des Abends war die aus Umbrien stammende Sängerin und Stimmvirtuosin Lucilla Galeazzi, ursprünglich eine eindrückliche Interpretin alter umbrischer und italienischer Volksmusik, die aber inzwischen über ein faszinierendes Aktions- und Erfahrungsspektrum gesanglichen Könnens verfügt, von mittelalterlichen Liedern über Contemporary Folksongs bis zu New Jazz und Neuer E-Musik. Aufmerksame Jazz- und Musikfreunde kennen sie etwa vom einzigartigen „La Banda“-Projekt des SWR bei den Donaueschinger Musiktagen 1996, hervorragend dokumentiert auf der gleichgnamigen ENJA-2CD-Edition, aber zum Beispiel auch von den „Castel Del Monte“-Aufnahmen mit Michel Godard (ebenfalls auf ENJA). Dass diese hervorragende Vokalistin, die aber ebenso gekonnt ins Italienische übersetzte Texte von Jacques Siron perfekt rezitierend ins musikalische und bildliche Geschehen integrierte, die ideale stimmliche Ergänzung in diesem eng ineinander verflochtenen Bild-Ton-Kunstwerk darstellte, wurde immer wieder deutlich. – Jammerschade, dass diese im Oktober in Rom uraufgeführte und danach im Kino Orient in Wettingen gespielte Bild-Ton-Sinfonie wahrscheinlich nur sehr selten zur Aufführung gelangen kann. Initiative Veranstalter sind aufgerufen, hier tätig zu werden.

„Das Alphorn“ und ein „unmöglicher Typ“

Noch ein weiterer Musikfilm stiess auf grosses Presseecho, ja wurde sogar als einer der wenigen Höhepunkte der Filmtage bezeichnet: Sefan Schwieters am Ende des Festivals aufgeführter Portaitfilm „Das Alphorn“. An der Kamera wiederum Pio Corradi. Auf faszinierende und eingehende Weise werden hier die verschiedenen Facetten und Einsatzmöglichkeiten dieses ur-schweizerischen Instruments dargestellt und beleuchtet, von der Tradition alten Alphornspiels über den in Traditionalistenkreisen umstrittenen, jazzmässigen Einsatz von Alphorn-Musik, das nicht weniger Kontroversen auslösende Spiel der Gruppe „hornroh“ oder den Kompositionen des Alphorn-Musikers Hans-Jürg Sommer bis zu den Klangcollagen des Minimal-Musikers Moondog, aufgeführt mit 16 Alphörnern vom Innerschweizer Jazzmusiker und Alphornspieler Hans Kennel.

Und dann gab es noch den 84 Minuten langen Portraitfilm „Le mammouth céleste“ der Lausannerin Marie-Jeanne Urech über den in der Schweiz wohnhaften, gebürtigen Rumänen französischer Staatsbürgerschaft, den bekannten Komponisten zeitgenössischer E-Musik, Horatiu Radulescu, übrigens ein Stammgast bei den Donaueschinger Musiktagen, der sich hier allerdings als ein sich ziemlich narzistisch und ausgefallen gebender Zeitgenosse entpuppte. „Er ist ein total unmöglicher Typ, unerträglich; mit ihm zusammenleben kann man nicht, aber er ist genial“, wird der Musikwissenschaftler Harry Halbreich im Programmheft zitiert. www.panepertutti.ch

 

 

            

©JAZZ 'N' MORE 1/2003 
© Fotos: Niklaus Stauss



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