Johannes Anders
Musik - Journalist

53. Intern. Filmfestival Locarno
Auch Musik spielt eine Rolle !

Von Johannes Anders

Filmfestival locarno 2000

Das bedeutendste Schweizer Filmfestival hat jeweils grosse Medienpräsenz. Dass es auch Bemerkenswertes in Sachen Musik gibt, wird weniger beachtet. So zum Beispiel der wunderbare 90-Minuten-Film ”El Acordeón del Diablo” von Stefan Schwietert. Der in Basel und Berlin arbeitende Regisseur, Cutter und Roadmovie-Spezialist konnte bereits mit seinem 1996 hier vorgestellten Werk ”A Tickle in the Heart” internationale Erfolge feiern.Filmfetival locarno 2000 ”El Acordeón del Diablo” ist eine in Herz und Gemüt gehende Reise an die kolumbianische Karibikküste, die Heimat des grossen Sängers, Komponisten und Erfinders des typischen kolumbianischen Son, Francisco ”Pacho” Rado. Seine Musik rangiert zwar nach wie vor in den Bestenlisten und wird überall gespielt, der 93jährige Akkordeon-Maestro aber lebt in einer Wellblechhütte am Stadtrand von Santa Marta. Mit ihm taucht der Film ein ins Reich von Cumbia, Vallenato und Son, in eine Welt von Musikern wie Alfredo Gutierrez, der die Stierkampfmusik seiner Heimat in einen fiebrig-pulsierenden Bigband-Sound verwandelt. Oder da ist der unbestrittener König des Vallenato-Akordeons, Israel Romero, der mit seinem Neffen El Morré, ebenfalls ein grosser Akkordeonvirtuose, atemberaubende Instrumentduelle austrägt. Die Lebensgeschichte von “Pacho” Rada, vom Schauspieler Günter Lamprecht im Off als eine Art innerer Monolog erzählt, wirkt wie eine Legende, in der die Grenzen zwischen Fantasie und Realität aufgehoben sind. Da gibt es zum Beispiel eine spannende, nächtliche Begegnung Rachas mit dem Teufel, der besiegt wird, weil Racha besser Akkordeon spielen kann. Überhaupt ist das Akkordeon die eigentliche Hauptfigur des Films, einer musikalisch wie menschlich so poetisch, emotional und sinnlich erzählten Geschichte, dass es während der Vorführung im riesigen FEVI immer wieder Zwischenbeifall gab und der Film am Schluss begeisterte Publikumsreaktionen auslöste. In einer anschliessenden, unter reger Publikumsbeteiligung stattgefundenen Diskussion berichtete der Regisseur u.a. von den grossen Schwierigkeiten mit den Behörden, die die Realisierung des Films fast verunmöglichten, aber auch von der bereits im Film präsenten, allgegenwärtigen Gewalt und den Drogenproblemen. Allgemein wurde bedauert, dass der Film nicht auf der Piazza gezeigt wurde. Der Jubel einer vieltausendfachen Besucherschar wäre ihm sicher gewesen, im Gegensatz zu manch anderen Piazza-Projektionen, auf die man gerne verzichtet hätte. Der Kinostart ist übrigens am 19. Oktober im Zürcher Kino Morgental und bei RecRec ist in Zusammenarbeit mit Bea Cuttat vom Zürcher Filmverleih “Look Now!” bereits die CD mit der hinreissend-ungestümen Akkordeon- und Gesangsmusik des Films erschienen ("El Acordeón del Diablo", EFA CD 05166 / Zero Film GmbH / RecRec ZH).

Musiker umspielen Holzskulptur
In einer speziellen Vorführung stellte dann die SRG SSR idée suisse den von der Zürcher T+C-Film im Auftrag von SF DRS und Arte hergestellten, 52 Minuten langen Dokumentarfilm “Klangkörper” des Schweizer Regisseurs Bruno Moll erstmals vor. Der Film taucht mit eindringlicher Bild- und Tonsprache in die verschiedenen Stimmungen und Räume der gleichnamigen Holzskulptur ein, die der Schweizer Architekten Peter Zumthor für den Schweizer Pavillon an der Expo 2000 in Hannover geschaffen hat. Dieses Kultur umfassende Gesamtkunstwerk wird zwar viel und heiss diskutiert, stellt aber ein höchst orginelles und beeindruckendes Beispiel einer zumindestens dort existierenden, progressiven wie sympathischen Schweiz dar. Faszinierend, wie der Komponist Daniel Ott mit Akkordeon und Hackbrettmusik ein immer wieder neu sich bildendes Klangkontinuum entstehen lässt, auf das im Laufe der Ausstellung über 200 Musiker in wechselnden Zusammenstellungen mit fixierten wie frei improviserten Statements reagieren. Da entdeckt man in überraschenden Situationen etwa Co Streiff, Paul Haag und Hans Kennel, Hans Koch, Markus Eichenberger und Hans Hassler, um nur diese wenigen zu nennen (siehe auch CD-Besprechung am Schluss des Berichts).

Schweizer Filmmusik fördern
Filmfestival Locarno 2000Erstmals verlieh die SUISA-Stiftung für Musik den Schweizer Filmmusik-Preis für die beste Filmmusik der letzten drei Jahre. Bei einem kleinen Fest auf der Terrasse des Grand Hotels konnte der junge Zürcher Komponist Alex Kirschner den mit 10‘000 Franken dotierten Preis in Empfang nehmen. Die Jury, zusammengesetzt mit Fachleuten aus Musik, Film, Medien und Verlagswesen, hatte 54 Arbeiten zu bewerten und entschied sich einstimmig für Kirschners Musik zum Film “Irrlichter” des Zürcher Filmemachers Christoph Kühn, eine Klangkulisse aus gesampelten Geräuschen, Streichersounds und Gitarre. Der 1965 in Hartford CT (USA) geborene Schweizer Gitarrist, Soundtracker und Komponist, der am Berklee College of Music in Boston Gitarre und Filmmusik studierte, lebt seit 1971 in der Schweiz. Er spielte schon mit diversen CH-Jazzern wie etwa Herbie Kopf und Chris Wiesendanger. Viele Bekannte aus der Jazz-, World- und Pop-Szene sind auch auf seiner soeben erschienenen Sound-Collage-CD ”Atlas – A Global Journey” (KR 20001, MV) vertreten.

Filmfestival locarno 2000Street Jazz in Locarno
Dass man im Verlaufe des Festivals am Rande der Piazza Grande immer wieder auch sehr guten Modern Mainstream Jazz hören konnte, und das live und sozusagen open air, war eine der Überraschungen: Zum Beispiel auf der kleinen Bühne des Studio- und Präsentations-Pavillons der RTSI, oder auf einem Podest des Caffé Paolino. Die Musikerinnen und Musiker stammten aus dem näheren oder weiteren Umfeld oder aus dem nahen Italien und ihr Jazz hat durchaus Profiqualitäten. Jedenfalls bedeuteten ihre Auftritte eine schöne und entspannende Alternative zum angestrengten Festivalbetrieb und das Zuhören machte jeweils Spass.
Johannes Anders




© JAZZ 'N' MORE 5/2000
© Fotos: Look Now


CD Daniel OttDANIEL OTT

„Klangkörperklang“
(MGB CD 6190 / MV)



„Klangkörperklang“ erklang während 153 Tagen vom 1. Juli bis zu 31. Oktober 2000 während täglich 12 Stunden in Peter Zumthors einzigartiger, hölzerner Skulptur, dem erfolgreichen, vielbeachteten, ein breites Publikum faszinierenden Gesamtkunstwerk „Klangkörper“, das den Schweizer Pavillon an der Weltausstellung in Hannover prägte. Aus dem umfangreichen Fundus von Aufnahmestunden mit improvisierter Musik, folkloristischen Elementen, freiem solistischem Spiel, Freejazz-Exkursionen und geräuschhaften Klangcollagen, hat der Schweizer Komponist Daniel Ott, von dem Idee und Konzept dieser vielfältig schillernden Klanglandschaften stammt, ein 74-Minuten-Opus herausdestilliert, kumuliert, geschichtet, zusammenkopiert und neu strukturiert. Beteiligte bei diesen exklusiven Klang-, Ton- und Geräuschausflügen waren in der Skulptur wechselweise hin und her wandernde MusikerInnen wie Co Streiff, Hans Koch, Ruedi Häusermann, Peter Schärli, Hans Hassler, Peter Kowald, Jan Schlegel, Rico Gubler, Remo Crivelli und viele andere. Auch dieser für die CD-Edition sozusagen neu „komponierte“ und gesampelte Klangkörper ist ein ereignisreiches Gesamtkunstwerk der ganz besonderen Art. ja


          

© JAZZ 'N' MORE 6/2002



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