Johannes Anders
Musik - Journalist

Ein grosser Förderer und Vermittler des Jazz

Der Radiopionier und Philosoph des Hörens, Joachim Ernst Berendt, ist tot

 Text und Fotos Johannes Anders

Wie wir bereits kurz meldeten, ist Prof. h.c. Joachim Ernst Berendt, Radiopionier, Publizist, Buchautor, Veranstalter, Festivalgründer, Produzent von TV-Jazzsendungen und Schallplatten, weltweit geachteter Jazz-Fachmann und einer der bedeutendsten Kämpfer für die Sache des Jazz im Nachkriegseuropa, im Alter von 77 Jahren Anfang Februar in Hamburgs Innenstadt an den Folgen eines tragischen Verkehrsunfalls gestorben. Berendt hat wie kein anderer Generationen von jungen Hörerinnen und Hörern Wege zum Jazz geöffnet, über alle Vorurteile hinweg versucht,  Verständnisbrücken zu bauen und unermüdlich für ein interessiertes, vertieftes Sich-Beschäftigen mit diesem einzigartigen Musikphänomen des 20. Jahrhunderts geworben. Ihm ist es in erster Linie zu verdanken, dass sich der Jazz über alle gesellschaftlichen Barrieren hinweg als dritte musikalische Kraft zwischen der sogenannten E- und U-Musik etablieren und im kulturellen Bewusstsein verankern konnte. Wer erinnert sich nicht an seine sanfte, ruhige, fast beschwörende, Kompetenz, Enthusiasmus und grosse Überzeugungskraft ausstrahlende Stimme, mit der er die Hörer seiner Südwestfunk-Radiosendungen und Veranstaltungen in seinen Bann zog. Und wer hat nicht oftmals sein berühmtes, in vielen Auflagen immer wieder aktualisiertes „Jazzbuch“ als  grosse Hilfe beim Suchen nach Namen, Fakten, Stilen, biographischen Hinweisen und jazzgeschichtlichen Zusammenhängen herangezogen, sich dabei vielleicht aber auch da und dort Gedanken über eigenwillige Auslegungen und Thesen gemacht. Berendt wurde nie müde, zu unterstreichen, dass er Jazz als die Musik der Jugend und der Freiheit wie des Protests und des Widerstands, aber auch als das grosse Bindeglied zwischen den Musikkulturen der Welt empfindet. Wichtig war ihm eine ganzheitliche Sicht des Lebens und der Musik.  Zur Jazzkritik und zu aller Kunstkritik gehört, so Berendt, die Bewusstmachung, dass alle Kunst aus einer geistigen Welt schöpft, und er betonte, dass beim intensiven Hören Seelenkräfte freiwerden. In alle Betrachtungen über Musik sollte das Spirituelle miteinbezogen werden, weil der lebende, denkende, empfindende Mensch ja von Grund auf ein spritituelles Wesen ist.

„Jazz gehört und gesehen“  

Berendt wurde 1922 in Berlin als Sohn eines protestantischen Pfarrers geboren; der Vater wurde 1942 im Konzentrationslager Dachau von den Nazis ermordet. Berendt gehörte 1945 zu den Mitbegründern des Südwestfunks/SWF ( heute Südwestrundfunk/SWR) Baden-Baden. Von 1950 bis 1987 leitete der die Jazzredaktion des SWF, die erste derartige Redaktion einer Sendeanstalt überhaupt. Sein Ausscheiden war nicht etwa altersbedingt, sondern Folge von Meinungsverschiedenheiten, die er nicht nur mit diversen Jazzkritikern und anderen involvierten Personen der Szene vehement austrug, sondern auch mit den Rundfunkintendanten des damaligen SWF. In diesen 37 Jahren SWF-Rundfunkarbeit produzierte er mehr als 10000 Jazzsendungen, ab 1954 auch die phänomenale SWF-Fernsehreihe „Jazz gehört und gesehen“. In extra für die jeweiligen Sendungen gestalteten Dekors und avantgardistischen Bühnenbildern konnte man die Grossen des zeitgenössischen Jazz erleben: Max Roach mit seiner „Freedom Now“-Suite, Miles Davis, das John Coltrane Quartet oder Eric Dolphy mit seinem European Quintet, mit Benny Bailey, live von der Deutschen Rundfunk-, Fernseh- und Phonoausstellung, Berlin, August 1961. Wo gibt’s Vergleichbares heute ?

Ende der fünfziger Jahre führte er, dank dem verständnisvollen Entgegenkommen des legendären SWF-Musikchefs und damaligen Präsidenten der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik, Heinrich Strobel, mit einem Jazzkonzert eine völlig neue Facette in die Donaueschinger Musiktage (für zeitgenössische Tonkunst) ein, dem schon damals weltweit renommiertesten und ältesten Festivals für Neue Musik. Auch wenn die Programmgestaltungen dieser Jazz-Konzerte in Bezug auf das höchst spezielle musikalische Umfeld nicht immer als geglückt bezeichnet werden konnte und zu Diskussionen Anlass gab: Diese „SWF-Jazz-Session“ ist zweifelsohne ein sehr wichtiges und deshalb unverzichtbares Element dieser Musiktage.

 1952 erschien zum ersten Mal sein berühmtes Werk „Das Jazzbuch“, das im Laufe der Zeit mit einer Auflage von 1.5 Millionen und in vielen Übersetzungen zur weltweit meistgekauften Jazzpublikation wurde und lange Zeit als eigentliche Jazzbibel galt. Insgesamt mehr als 20 Bücher hat der Vermittler, Botschafter und Manager in Sachen Jazz verfasst. Besondere Aufmerksamkeit fand seine Plattenreihe „Jazz meets the World, mit der sich Berendt für die Begegnung des Jazz mit anderen, besonders aussereuropäischen Musikkulturen engagierte. 1982 gründete er die Konzertreihe „American Folk Blues Festival“, das jahrelang in Europa unterwegs war. Zwei Jahre später wurde er für sein immenses Wirken für den Jazz mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse ausgezeichnet. Vorher hatte ihm bereits der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg den Titel „Prof.hc.“ verliehen. Zweimal erhielt er als Autor den Bundesfilmpreis, aber auch den Kritikerpreis des Deutschen Fernsehens sowie weitere Auszeichnungen. Berendt präsentierte deutsche und internationale Jazzmusiker und Gruppen in vielen Ländern bis ins ferne Asien. Sein wacher Sinn aber auch der Ehrgeiz, Entdeckungen zu machen,  liessen ihn immer wieder auf kaum bekannte oder völlig unbekannte, jedoch stets hochbegabte Musiker stossen, die er dann zu fördern suchte. Ein Beispiel dafür ist der blinde, schwarze, amerikanische Multiinstrumentalist Roland Kirk. In Deutschland setzte sich „Jo“, wie er von Musikern und Freunden genannt wurde, schon früh für Musiker wie etwa Attila Zoller und Albert Mangelsdorff ein. Berendt war Vertreter des Jazz in vielen internationalen Gremien und Mitarbeiter und Herausgeber diverser Jazzpublikationen. Vielbeachtete Vortragstourneen führten ihn fast jährlich in die verschiedensten Länder. Auf seine Initiative hin wurden 1964 die Berliner Jazztage, heute JazzFest Berlin, gegründet, deren künstlerische Leitung er bis 1972 inne hatte. Sein Nachfolger wurde dann, im Umfeld von allerhand unschönen Polemiken, unser George Gruntz. Mit hitzigen Attacken, unadäquaten Vorverurteilungen und unsachlichen Angriffen muss aber auch Albert Mangelsdorff, der derzeitige Leiter des JazzFests, leben.  Hervorzuheben und künstlerisch folgenreich waren aber noch andere Festival- und Konzertinitiativen Berendts wie zum Beispiel „Solo Now“, „The Art of the Solo“, „Die Kunst des Duos“, das Baden-Badener „World Music Meeting“ oder das seit 1966 alljährliche „New Jazz Meeting Baden-Baden“, das nach wie vor existiert und zu dem jeweils MusikerInnen eingeladen werden, mit einer speziell zusammengestellten Wunschformation neue Projekte zu erarbeiten, deren Ergebisse dann in öffentlichen Abschlusskonzerten vorgestellt werden.

Jazz und Lyrik

Ganz besonders am Herzen lagen Berendt die „Jazz und Lyrik“-Projekte, die er in den sechziger Jahren zusammen mit seinem hervorragenden, hochsensibel und traumwandlerisch agierenen Sprecher und langjährigen Partner Gert Westphal zu künstlerisch gültiger und gelungener Form brachte. Da wurden nicht einfach Musikaufnahmen abgespielt und dazu bei irgendwelchen geeigneten Passagen rezitiert; vielmehr gelang es, Text und Musik nach genau strukturierten Vorgaben in der Art eines kompositorischen Prozesses präzis, wirkungsvoll und sinngebend miteinander zu verzahnen, was auf einer Reihe von Platten eindrücklich dokumentiert ist. Ich denke da z.B. an die LPs mit Gedichten von Heinrich Heine und der Musik von Attila Zoller, an „Enzensberger Lyrik und Jazz“ mit Max Roach, Art Blakeys Jazz Messengers und den Quintetten von Miles Davis und Horace Silver, an die Edition „Die Wahrheit – Lebenswerk – 500 Seiten “: Gedichte von Gottfried Benn und Musik von Jay Jay Johnson, Dave Brubeck Quartet, Kai Windung und „Jay and Kay“. Ebenso sind mir Programme in bester Erinnerung, die damals jedoch leider nur für den Südwestfunk produziert wurden wie z.B. „Der Hass und die Hoffnung“: Texte von James Baldwin mit Musik von John Coltrane,  aber auch  Baldwin mit Mingus oder „Das Ghetto Harlem“: Lyrik und Prosa von Baldwin, Langston Hughes und Ralph Ellison mit der Musik von Duke Ellington; später kamen dann noch „Empyrean Isles“ und  „Mayden Voyage“ mit Texten von Nora Kelly und der Musik von Herbie Hancock dazu. Zusätzlich interessant dabei, welch inspirierende Wechselwirkungen diese symbiotischen Text-Musik-Montagen bei so manchen HörerInnen auslösen konnten: Die einen entdeckten über die Musik ihnen vorher nicht bekannte Texte oder Gedichte und wurden dazu animiert, sich näher damit zu beschäftigen, bei anderen war es umgekehrt.

 1996 erschien Berendts teilweise extrem persönlich verfasste Biographie „Das Leben ein Klang. Wege zwischen Jazz und Nada Brahma“, die seinen Kritikern weitere Munition lieferte. In seiner grossen Zeit als Jazzpromoter, Mentor und kämpferischer Kosmopolit hatte er sich mit seinem Widerspruchsgeist bekanntlich allerhand Feinde gemacht. Ihm wurden der Absolutheitsanspruch und das dogmatisch Anmutende so mancher seiner Thesen, vor allem aber auch die Begleiterscheinungen übel genommen, die sich ergeben, wenn einer kompromisslos und so manches Mal ohne grosse Rücksicht auf andere seine Ziele verfolgt. Zu diesem Thema pflegte er die Jazz-Impressarios Norman Granz und George Wein zu zitieren, die übereinstimmend davon sprachen, dass die bestgehassten Leute der Jazzwelt diejenigen sind, die am meisten getan haben. Wie auch immer: Dass Berendt, nicht zuletzt durch sein Qualitätsbewusstssein, seine plausiblen Erklärungen und die allgemein verständliche Sprache, zumindestens europäische Jazzgeschichte massgebend mitgeschrieben hat, daran gibt es keinen Zweifel. – Übrigens: Berendt war auch einmal Gast beim Schweizer Radio DRS und zwar im Rahmen der jeweils einstündigen musikalischen Gesprächssendungen der damaligen Reihe „An der Jazzotheke“. Der eingeladene Gast musste sich dabei bereiterklären, auf vorher nicht gekennzeichnete Musikstücke zu reagieren und diese zu kommentieren. Die Erstsendung fand am 6.5.1980 um 23.05 Uhr über DRS1 statt, eine Zweitsendung ging am 2.12.1980, wiederum um 23.05 Uhr, und wieder bei SR DRS1, über den Sender. (Gastgeber war der Autor dieses Nachrufs.)    

„Ich höre also bin ich“

Nach seiner Pensionierung  wandte sich der grosse Jazzförderer und politisch und gesellschaftskritisch stets hellwache Zeitgenosse Berendt der Philosophie des Inneren Hörens zu, was durch seine nicht unumstrittenen Bücher „Nada Brahma – die Welt ist Klang“, „Das dritte Ohr“, „Vom Hören der Welt“, „Hinübergehen“, „Ich höre also bin ich“ und den Gedichtband „Lass den Fluss strömen“ dokumentiert ist. Später liess er zu entsprechenden Seminaren in der Toscana einladen und veranstaltete in europäischen Metropolen wortlose musikalische Meditationsveranstaltungen unter Leitmotiven wie z.B. „Das Tao des Hörens“. Zu diesbezüglicher Kritik aber auch zum Vorwurf, sein sich Abwenden vom Jazz stelle eine Art Verrat an der Sache dar, äusserte er sich einmal in einem „Zeit“-Gespräch mit Konrad Heidkamp: „Ich spüre immer deutlicher, dass die Musiker nur noch technisch besser wurden, immer schneller, lauter, höher, perfekter, brillanter, aber es geschah nichts wesentlich Neues“. Und weiter: „Nein, ich lasse mich nicht in die esoterische Ecke drängen; (...) auch das, was ich heute mit meiner Hörarbeit tue, hat gesellschaftlichen Anspruch“. Und zum Jazz: „Ich habe mich nur von der beruflichen Beschäftigung mit dem Jazz abgewandt, meine persönliche Liebe gehört nach wie vor dem Jazz. Kaum ein Tag, an dem bei uns zu Hause nicht eine Jazzplatte läuft“.       Johannes Anders               

© JAZZ 'N' MORE März 2000
Fotos: Copyright: Johannes Anders



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