Johannes Anders
Musik - Journalist

Phänomenales Fazit

Lucerne Festival „Sommer” 2003  

Noch nie waren die vorangegangenen 64 Luzerner Sommer-Festivals so umfangreich und noch nie gab es einen derartig überragenden künstlerischen und medialen Erfolg wie diesmal - und auch der Jazz war wieder präsent.

Mit 38 Festivaltagen hatte „Sommer“ die längste Dauer der Festivalgeschichte. 84 Konzerte, 22 Orchester und Ensembles sowie zahlreiche Solisten und Kammermusikformationen waren zu Gast, darunter 5 zu den bedeutendsten zählende Orchester in je dreitägiger „Residence“: das Pittsburgh Symphony Orchestra, das Concertgebouworkest Amsterdam, Chicago Symphony Orchestra sowie die Berliner und Wiener Philharmoniker. Letztere boten jedoch mit ihrem „Dirigenten“  Bobby McFerrin einen veritablen Flop, denn McFerrin hatte zwar die Beethoven- Mozart- und Gershwin-Partituren auswendig gelernt, leitete aber das Orchester nicht wirklich sondern begleitete es mit runden weichen Bewegungen. Da waren seine bekannten improvisierten Vocal-Solo-Einlagen sowie der effektvolle Einbezug des vornehmen Publikums, dass sich jedoch überraschend willig zum mehrstimmigen Mitsingen anleiten liess, eine willkommene Abwechslung. 

Höhepunkte mit B.A. Zimmermann und Heiner Goebbels

 Einer der grossen Höhepunkte war die Schweizer Erstaufführung von Bernd Alois Zimmermanns „Requiem für einen jungen Dichter“ (1963-69), ein dramatisches Werk, das klanglich überwältigend und unter die Haut gehend die gesamten Raumakustikspektren des grossen KKL-Saales einbezog, mit 3 Chören, sozusagen kreisförmig verteilt auf Balkongalerien und Orgelempore, mit Elektronik, Orgel, Sprecher, Sopran- und Bass-Solo, einer Jazzcombo (Alexander von Schlippenbach Quintett) sowie dem grossen Hamburger Staatsorchester unter Ingo Metzmacher. Verblüffend u.a., wie einzelne verwendete Textzitate von Dichtern, Politikern und Staatsmännern auch heute nichts von ihrer Bedeutung und Aktualität eingebüsst haben und auch die Musik nichts von ihrer Kraft verloren hat. Auch das Schlusskonzert mit den Berliner Philharmonikern unter seinem neuen Dirigenten Simon Rattle, die sich mit Engagement der Heiner Goebbels-Komposition „Surrogate Cities“ widmeten, mit Lichteffekten, Sampler, Elektronik, Geräuscheinsatz, grossem Perkussionsarsenal und vor allem auch dem umwerfend agierenden Sänger David Moss, aber auch der Jazzsängerin Jocelyn B. Smith, wurde zu einem faszinierenden Glanz- und Schlusspunkt des Festivals. – Interessant auch das von SR DRS2 live übertragene Jazzkonzert mit dem Quartet Noir mit Urs Leimgruber, Marylin Crispell, Joëlle Léandre und Fritz Hauser, das im grossen Saal (!) vier Auftragskompositionen uraufführte. Spannend dabei, wie unterschiedlich die vier KomponistInnen Bettina Skrzypczak, Jacques Demierre, Mela Meierhans und Alexander von Schlippenbach die herausfordernden Felder komponierter und improvisierter Musik sowie die vielfältigen Zwischenbereiche und Wechselbeziehungen angingen und einsetzten, mit unterschiedlich prägender Mitwirkung der Quartettmitglieder am Entstehungsprozess. Den Abschluss des Konzerts bildete eine rund 20-minütige, freie Kollektivimprovisation des Quartetts.  

Immer mehr Gewicht auf die Moderne

Mehr als 150 Werke des 20. und 21. Jahrhunderts, darunter 18 Uraufführungen, von denen 14 Auftragswerke des Festivals waren, erklangen in der Reihe „Moderne“, aber auch in anderen Programmsegmenten. Bedeutsam in diesem Zusamenhang auch die zusammen mit Pierre Boulez gegründete und unter seiner Leitung stehende Lucerne Festival Academy, deren Ziel es ist, die Musik des 20.und 21. Jahrhunderts „lieben zu lernen“ (Boulez) und sowohl den Musikern wie dem Publikum näher zu bringen. Nach der diesjährigen Preview Academy sollen 2004 nach einem strengen, weltweit durchgeführten Auswahlverfahren 120 junge Musikstudenten und Musiker zur Academy nach Luzern kommen und das Erlernte präsentieren. – Beim diesjährigen Sommer-Festival wurden insgesamt 80’500 Besucher gezählt (2002: 78'800). Die Gesamtauslastung lag – trotz des teilweise höchst anspruchsvollen Musikangebots – bei 85.6 % (2002. 85.2 %), die der Sinfoniekonzerte bei 90.3 %. 310 Medienvertreter aus 24 Ländern waren akkreditiert. 34 Konzerte wurden von SR DRS und zahlreichen internationalen Stationen übertragen. Erstmals wurden zwei Konzerte für das Fernsehen aufgezeichnet und in den Programmen von SF DRS und ARTE übertragen. 15 TV-Teams aus Europa und Japan berichteten. Nach „Verführung“ im letzten Jahr wurde diesmal das Leitmotiv „ICH“ in einem Symposium sowie in anderen Veranstaltungen mehr oder weniger einleuchtend behandelt. 2004 soll das Thema „Freiheit“ das Festivalprogramm begleiten.

Johannes Anders

     




© JAZZ 'N' MORE - 5/2003
Fotos: Johannes Anders (Jacques Demierre)
Fotos: PD (Boulez + Rattle)   



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