Johannes Anders
Musik - Journalist

Überraschungscoup mit Trio

Keith Jarrett - Gary Peacock - Jack DeJohnette

beim Montreux Jazz Festival 2000

von Johannes Anders

Pianostar Keith Jarrett scheint seine seltsame Krankheit entgegen eigener Prognosen weitgehend überwunden zu haben. Jedenfalls präsentierte er sich beim Montreux Jazz Festival in hervorragender Kondition und begeisterte mit zwei prägnanten Sets.

Wie intensiv und gravierend Keith Jarretts vielzitiertes Erschöpfungssyndrom auch immer gewesen sein mag, Freunde seiner Musik und alle diejenigen, die ihn für eine der grossen Musikerpersönlichkeiten unserer Zeit halten, haben sich zumindestens darüber Sorgen gemacht, dass er seit Ende 1996 kaum mehr Konzertauftritte hatte und keine Jazzaufnahmen mehr machte. Und als im Herbst 1999 die Solo-CD „The Melody At Night, With You“ erschien (siehe „JAZZ ‚N‘ MORE“, Nr.1/2000, Seite 32), Solo-Aufnahmen, die Jarrett in seinem Heimstudio machte, mit wunderbar stillem, die Essenz der einzelnen Stücke fokussierendem Spiel, da war man zwar sehr angetan von der ungewohnten Schlichtheit und Reduktion, die Sorgen aber trotzdem nicht ganz los.

Jetzt überraschte der Pianostar mit dem Wagnis von 6 grossen, europäischen Konzerten (in Perugia, Montreux, beim Festival de Jazz d’Antibes Juan-les-Pins, in San Sebastian, und zwei Auftritten in der Royal Albert Hall in London); das allerdings mit seinem eingespielten Standard Trio mit Gary Peacock und Jack DeJohnette und nicht mit Solo-Performances, die ja eine noch grössere Herausforderung bedeutet hätten. Und die Überraschung war (trotzdem) gross! Da hat sich einer, der sich gemäss eigenen Aussagen schon fast völlig im gesundheitsbedingten, künstlerischen Abseits befand, mit beeindruckender, musikalisch-kreativer Präsenz zurückgemeldet, zwar nicht gerade wie ein Phönix aus der Asche, aber doch mit je länger je mehr begeisternd-intuitivem Improvisationsspiel von grosser Dringlichkeit und Dichte. 

Phantastisches Triospiel

Das ganze erste, 45 Minuten lange Set, kreiste um ein im Zentrum stehendes, rhythmisch prägnantes, Blues-artiges Motiv, mit ruhigen, meditativen Sequenzen, mit konzentriertem, polyphonen Trio-Gesprächen, mit freiem, kollektivem Floaten in melodisch und rhythmisch abstrakte Klanglandschaften, aber auch mit wunderbaren, rhythmisch starken Dialogen, zum Beispiel zwischen Jarrett und Drummer JackDeJohnette, der sich etwa in einer spannenden Sequenz mit prickelnd sprühender Besenarbeit einbrachte und einen besonders guten Tag hatte. Jarrett-Lieblingsbassist Gary Peacock agierte adäquat wie gewohnt, auch wenn er, besonders am Anfang, kurzzeitig mit Intonationstrübungen zu kämpfen hatte; er ist ja sowieso nicht gerade der grosse Meister reiner Tongebung; seine Qualitäten liegen woanders: im dichten, kommunikativen, rhythmisch akzentuierenden wie inspirierenden Kollektivspiel. Auch bei Jarrett spürte ich in den Anfangssequenzen immer mal wieder ganz kurz kleinste, ungewohnte Bruchstellen im Intensitätsfluss und Aufbau linearer Strukturverläufe. Einer der Gründe dafür mag gewesen sein, dass diese Art freier, dreiviertelstündiger Exposition in Montreux zum ersten Mal in dieser Ausgeprägtheit „inszeniert“ wurde. Diese kleinen Haken waren dann aber im weiteren Verlauf des ersten Teils und vor allem in den zweiten 45 Minuten des Abends wie weggeblasen. Hier ging es auch nicht in erster Linie um riskante, freifliessende Expeditionen und Inventionen, sondern um das geniale Spielen, Umspielen, Drehen und Wenden, um das verschiedenartige Beleuchten und immer wieder neue Erkunden von Standard-Themen wie „The Song Is You“, „The Devil And The Deep Blue Sea“, „Stars Fell On Alabama“, „When I Fall in Love“ oder Sonny Rollins‘ „Doxy“. Und auch das gelang den dreien meisterhaft!. 

Begleiterscheinungen

Wer bisher schon wenig Verständnis dafür hatte, oder es (fälschlicherweise) als reines Show-Gehabe abtat, nämlich, dass Jarrett prägnante Sequenzen gern auch mal durch Spiel im Stehen unterstreicht und das Ende einer besonders gelungenen Sequenz oder den Raum zwischen zwei dicht pulsierenden Patterns durch rufähnliche Laute markiert, der empfand das wahrscheinlich auch bei diesem Konzert als störend. Missverständliche Begleiterscheinungen gab es aber auch sonst in Montreux. Wer den Rummel bei diesem Festival kennt, versteht, warum Jarretts Management zur Auflage gemacht hatte, dass während des Konzerts absolute Ruhe zu herrschen hatte, auch keine anderen Musik-Veranstaltungen stattfinden durften und der allgemeine Geräuschpegel um das Gebäude und darinnen auf ein Minimum reduziert werden musste. Ob jedoch zum Beispiel die drastische Reduktion der Pressekarten speziell für diesen Anlass nicht eher auf die überall dominierenden, kommerziellen Interessen des Festivalorganisators zurückzuführen waren, mit Eintrittspreisen von 99 bis 129 Franken für das schon lange vorher ausverkaufte Konzert, das bleibe dahingestellt. Positiv muss vermerkt werden, dass die Verstärkung und der Sound im riesigen „Auditorium Stravinski“ einwandfrei und von seltener Qualität waren, auch was die Lautstärke betraf. Und mit Befriedigung kann festgestellt werden, dass auch dieses grossartige Jarrett-Konzert zur Dokumentation und eventuellen späteren Verwendung für das Label ECM in voller Länge aufgezeichnet wurde.

 

 

© Johannes Anders 2000.



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