Gert Westphal zählte zu den grossen Rezitatoren, Erzählern, Sprechern und Vorlesern deutscher Sprache. Mit seinen Jazz & Lyrik-Produktionen brachte er den Freunden der Dichtung modernen Jazz näher und den Jazzfreunden konnte er Sinn für moderne Lyrik und Prosa vermitteln.
Kulturkritiker mit Hang zum Reinen, Absoluten, abhold jeglicher Form von Annäherungen verschiedener kultureller Genres, sehen heute wie damals rot, wenn von den verschiedenen Facetten von Lyrik und Jazz die Rede ist. Was diese literarischen Reinheitsapostel bei all ihrer Prinzipientreue völlig übersahen und überhörten, war, dass sich hier in den sechziger Jahren vor allem in Europa eine neue kreative Kunstform entwickelt hatte, die im Idealfall nicht nur zu einer eigenständigen Gattung wurde, sondern die auch wichtige künstlerische Vermittlungs- und Brückenschlagfunktionen beinhaltete: Jazzhörer machten mit moderner Dichtung und Prosa Bekanntschaft und umgekehrt wurden Literatur- und Lyrikfreunde möglicherweise erstmals mit anspruchsvollem, modernen Jazz konfrontiert, was nicht selten Folgen hatte, womit wir beim wichtigsten literarischen Repräsentanten dieser Kunstrichtung im deutschsprachigen Raum wären: beim einzigartigen Rezitator, Erzähler, Sprecher und Vorleser Gert Westphal, der am 10. November 2002 in Zürich 82-jährig einem Krebsleiden erlegen ist. Wir müssen hier die grossen Verdienste dieses legendären „Doyen der Sprechkunst“ und „Königs der Vorleser“, wie er immer wieder genannt wurde, nicht wiederholen. Was in den verschiedenen Nachrufen der Presse nicht oder kaum erwähnt wurde, ist sein pionierhaftes und höchst engagiertes Tätigsein für die Kunstform Lyrik und Jazz, was vor allem in Zusammenarbeit mit seinem Co-Autor Joachim Ernst Berendt vom Südwestfunk Baden-Baden zu beeindruckenden und überzeugenden Resultaten führte, die teilweise auf Platte veröffentlicht wurden.
Der Hass und die Hoffnung
„Die Wahrheit, Lebenswerk, 500 Seiten“ - Gedichte von Gottfried Benn, Musik von Brubeck, J.J. Johnson und Jay & Kai; Gedichte von Heinrich Heine mit der Musik des Gitarristen Attila Zoller; „Hallelujah im Niemandsland - Enzensberger Lyrik und Jazz“; „Hesse between Music“; „Der Walzer vom Weltende“ - Jazz & Lyrik aus Polen mit Musik u.a. von Krzysztof Komeda und polnischen Jazzern; „Das Ghetto Harlem“ – Lyrik und Prosa von Langston Hughes, James Baldwin und Ralph Ellison mit der Musik von Duke Ellington; „Des weissen Mannes Himmel ist des schwarzen Mannes Hölle“ - Texte von James Baldwin, Musik von Charles Mingus; „Im Vollbesitz meiner Zweifel“ - Texte von Peter Rühmkorf, Musik von Johnny Griffin; oder „Der Hass und die Hoffnung“ - Prosa von Baldwin und Musik von John Coltrane...; das sind einige Beispiele dieser ungemein fruchtbaren Zusammenarbeit von Westphal und Berendt. Aber Westphal, der seit den sechziger in Thalwil lebte, war sich nicht zu gut, auch mit Schweizer Musikern Lyrik & Jazz-Projekte zu realiseren, etwa Ende der sechziger Jahre mit Gedichten von Franz Wurm und der Musik von Bruno Spoerri mit dem Hans Kennel Quintett, sowie den Radioproduktionen „Empyrean Isles“ oder „Maiden Voyage“ mit Texten von Nora Kelly (freie Übersetzungen und Nachdichtungen von Franz Wurm) und Musik von Herbie Hancock, Montage Klaus Koenig. Aber auch mit dem Jazz Live Trio und dem Metronome Quintet trat er immer wieder auf, mit dem Jazz Live Trio erst kürzlich im Rahmen der Hermann-Hesse-Ausstellung im Zürcher Landesmuseum.
Johannes Anders
© JAZZ 'N' MORE - 6/2002
© Fotos: Hans Kumpf + PD